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Projekt Bremenkrimi – Leseprobe

Disclaimer

Dieser Text ist eine Rohfassung in alter Rechtschreibung. Er ist weder รผberarbeitet noch lektoriert. Jedwede Fehler oder unlogische Passagen, die Du findest, darfst Du behalten 😏

1. Kapitel (Sa)

Projekt Bremenkrimi - Leseprobe
Projekt Bremenkrimi – Leseprobe 3

Von auรŸen wies nichts darauf hin, daรŸ es in der der Villa im noblen Bremer Stadtteil Oberneuland etwas Besonderes zu sehen gab. Gut, das Haus hรคtte in anderen, weniger exklusiven, Stadtteilen gut und gern ein Dutzend Familien beherbergen kรถnnen. Auch das gepflegte Grundstรผck, auf dem es lag, war ein wenig grรถรŸer als die der Nachbarn in der StraรŸe.

Lediglich mehrere groรŸe Limousinen vor der Einfahrt verrieten die Anwesenheit einer Reihe Personen, die sich diese Art der Fortbewegung leisten konnten.
Etwas deplatziert wirkte fรผr einen Nichtbremer dagegen ein einzelnes Hollandrad, das einfach an den Zaun gelehnt stand. Der รคltere Herr, der zu diesem Vehikel gehรถrte, betrat gerade das Haus durch den Vordereingang.

ยปIch habe mich ein wenig verspรคtet. Der Geist war willig, aber die alten Knochen haben die Entfernung unterschรคtzt.ยซ

ยปAber das macht doch gar nichts, lieber Henning! Ich bewundere sehr, wie rรผstig Du mit beinahe achtzig bist.ยซ

ยปDas sagt mir jemand, der aussieht wie Fรผnfzig. Wie alt bist Du eigentlich wirklich, lieber Alasdair? Du machst darum immer ein groรŸes Geheimnis.ยซ

ยปDu wรผrdest es mir sowieso nicht glauben. Und jetzt komme herein. Wir haben mit dem Mahl auf Dich gewartet.ยซ

ยปDarรผber werden nicht alle Gรคste glรผcklich gewesen sein.ยซ Das frรถhliche Augenzwinkern des Gastes war beinahe hรถrbar.

ยปDu hast recht. Jens hat sich ein wenig echauffiert.ยซ Beide lachten verhalten. Dann verlor sich das Gesprรคch im Innern und die Eingangstรผre schloรŸ sich.

Heute trafen sich hier die hรถchsten Kreise der Hansestadt. Der halbe Senat befand sich vor Ort, denn niemand wรคre so unklug, eine Einladung der Familie von Hagestolz abzulehnen. Ihre Unternehmen hatten nach dem Krieg die Stadt mit aufgebaut und ihr EinfluรŸ reichte auch heute noch weiter, als die meisten der Anwesenden sich mit ihren begrenzten geistigen Mรถglichkeiten vorstellen konnten. Verabredungen, die hier getroffen wurden, blieben geheim, denn jemand, der es mit der Diskretion nicht so genau nahm, wurde nie wieder eingeladen.

Die Veranstaltung fand in einer saalartigen Zimmerflucht statt. Auf gegenรผberliegenden Seiten des zentralen Areals gab es gerรคumige Durchbrรผche in zwei etwas kleinere Nachbarrรคume. Die hohe Decke war reich mit Stuck verziert. Ein Kronleuchter mit olympischen MaรŸen hing so tief herunter, daรŸ jemand, der diesen Raum zum ersten Mal betrat, unwillkรผrlich den Kopf einzog.
Die รผberwiegend mรคnnlichen Gรคste standen in Grรผppchen beisammen. Dienstfertige Kellnerinnen mit kurzen Rรถcken wieselten zwischen ihnen hin und her und servierten Getrรคnke und Kanapรฉes. Ein kleines Orchester war in einer helleren Ecke des Hauptraumes platziert und spielte Salonmusik.

Ein junger Mann, der auf der anderen Seite des Saales stand, blickte ausdruckslos รผber die anwesenden Personen hinweg. So ganz verstand er nicht, warum die Einladungskarte fรผr diesen Abend morgens in seinem Briefkasten gelegen hatte. Vielleicht war eine der hier anwesenden Personen auf ihn aufmerksam geworden; immerhin hatte er gerade sein zweites Staatsexamen beendet und er glaubte, auf der Verleihungszeremonie einige der hier anwesenden Gesichter bemerkt zu haben. Wahrscheinlicher hatte aber seine Mutter ihre Hand im Spiel. Sie fรถrderte ihn, wo sie nur konnte, und bestimmt verdankte er die Einladung ihr.

Der Mann schreckte hoch, als jemand die Hand auf seine Schulter legte.

ยปSie mรผssen Johan Hartung sein. Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie endlich kennenzulernen.ยซ

Johan drehte sich um und seine Augen weiteten sich. Er ergriff die ihm angebotene Hand und schรผttelte sie mit einer Verve, als wรคre sie ein schmutziges Staubtuch.

ยปHerr von Hagestolz! Ich bin sehr erfreut, daรŸ ich Ihrer Feier beiwohnen darf! Wir sind uns leider noch niemals persรถnlich begegnet. Womit habe ich die Ehre verdient, Sie kennenlernen zu dรผrfen?ยซ

ยปDie Ehre ist auf meiner Seite.ยซ Sein Gegenรผber ertrug die Sympathiebezeugung, ohne eine Miene zu verziehen. ยปNennen Sie mich Alasdair. Es liegt im Interesse unserer schรถnen Stadt, junge, aufstrebende Talente frรผhzeitig in die Entscheidungsprozesse mit einzubinden, die sie spรคter gestalten sollen, wenn meine Generation dafรผr zu alt ist.ยซ

Johan errรถtete. Sein Gegenรผber traf offensichtlich den richtigen Ton. Dankbar nahm er das Glas Champagner an, das der Patriarch der Hagestolz-Familie ihm entgegenhielt.

ยปZum Wohl!ยซ

ยปZum Wohl, Herr von Hagestolz โ€ฆ Alโ€ฆ Alasdรคr.ยซ Johan trank das angebotene Glas mit einem Zug halb leer. ยปKann es รผbrigens sein, daรŸ auf Ihrer Einladung kein AnlaรŸ stand, der heute gefeiert wird?ยซ

ยปDas liegt durchaus im Bereich der Mรถglichkeit. Ich gรถnne mir einige Male im Jahr den Luxus, meine Freundeยซ, Alasdair von Hagestolz legte dabei wie selbstverstรคndlich seinen Arm um Johan, ยปzu mir einzuladen. Unser Leben ist zu kurz, um es mit Geschรคften und anderen Kalamitรคten zu vergeuden, finden Sie nicht?ยซ

ยปJโ€ฆ jโ€ฆ jaยซ, stotterte Johan, den die zutrauliche Geste vรถllig รผberraschte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und der allgegenwรคrtige Tinnitus erscholl fรผr einen Augenblick in Martinshornstรคrke.

ยปUnd jetzt wird es Zeit, daรŸ Sie sich amรผsieren.ยซ Der Blick des alten Hagestolz wanderte bereits wieder zwischen den Gruppen anderer Besucher hin und her. ยปDas Bรผffet ist erรถffnet. Ich wollte mich nur vergewissern, daรŸ Ihnen diese Veranstaltung konveniert. GenieรŸen Sie den Abend. Mein Bรผro wird Sie in den nรคchsten Tagen kontaktieren.ยซ

Damit verschwand der alte Mann in der Menge. Im nachhinein hatte er gar nicht so alt gewirkt, wie er angeblich war. Das konnte aber auch professioneller Hilfe geschuldet sein. Johann erkannte ihre Spuren im Gesicht des Patriarchen. Fรผr so etwas hatte er einen Blick.

Er fรผhlte sich, als habe er gerade das groรŸe Los gezogen und stรผrzte sich ins Vergnรผgen. Das Bรผffet kam vom teuersten Caterer der Stadt. Ihr Wagen kam ihm auf dem Herweg entgegen und er dachte sich sein Teil. So lud er sich einen Suppenteller รผbervoll mit Leckereien, die er sich normalerweise aus Budgetgrรผnden verkniff: Seeteufel und Hummer sowie einen der exquisiten Salate. Das angebotene Brot verschmรคhte er. Dafรผr nahm er sich einen EรŸlรถffel Kaviar aus einem eisgekรผhlten Schรคlchen. Auf so einer Veranstaltung muรŸte der echt sein.

Auf vollen Backen kauend stand er wieder eine Weile an einem Stehtisch. Dann platzierte er den abgegessenen Teller auf dem Champagnertablett einer vorbeikommenden Kellnerin, eilte zurรผck zu den Futtertrรถgen, drรคngelte sich zwischen zwei anderen Gรคsten hindurch und lud sich einen neuen Teller voll.

Er war nicht mehr hungrig. Dafรผr hรคtte die Hรคlfte seiner ersten Portion genรผgt. Dennoch stopfte er die dargebotenen Leckereien in einem Tempo in sich hinein, als wรผrden die Mรคrkte am nรคchsten Tage fรผr immer schlieรŸen. Den leeren Teller legte er anschlieรŸend achtlos in den Kรผbel eines groรŸen Philodendrons.

SchlieรŸlich stand er in der Nรคhe der Musiker und betrachtete die wenigen dort anwesenden Frauen mit dem Blick eines Schlachthofbesitzers, der den Wert der Tiere taxiert, die gerade auf seinen Hof getrieben werden.

Meine Gรผte, das sind keine Titten mehr, das ist ein Gesรคuge! Und die Schnepfe daneben hat einen Arsch wie ein Molkereipferd.

ยปGehรถren sie zur Familie? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.ยซ

Eine junge Dame mit langen, schwarzen Haaren stupste ihn an.

Johan erstarrte fรผr einen Moment und musterte sie dabei von Kopf bis FuรŸ. Was er sah, schien ihm zu gefallen.

ยปBestimmt haben wir uns schon irgendwo gesehen.ยซ

ยปOh, ich glaube, doch nicht.ยซ Sie trat einen Schritt zurรผck.

ยปMit wem habe ich das Vergnรผgen?ยซ

ยปHanna Marquess. Alasdair von Hagestolz ist mein GroรŸonkel.ยซ

ยปJohan Hartung.ยซ

ยปHartung wie der Bรผrgerschaftsprรคsident?ยซ

ยปGenau der. Ich bin sein Sohn.ยซ Er streckte ihr die Hand entgegen.

ยปDer Bรผrgerschaftsprรคsident, dann sind Sie gar nicht verwandt?ยซ Sie ignorierte die Geste.

ยปNein, aber was nicht ist โ€ฆ in der nรคchsten Woche habe ich eine persรถnliche Unterredung mit Alasdรคr.ยซ

Johans Gegenรผber wirkte nur wenig beeindruckt. ยปMein Fehler. Diese Familienรคhnlichkeit โ€ฆ ich hรคtte gedacht, der alte Schwerenรถter hรคtte โ€ฆยซ Sie brach ab und schรผttelte den Kopf.

ยปWollen wir spรคter privat irgendwo hingehen?ยซ Diese Schnecke muรŸ ich mir angeln! ยปDiese Veranstaltung wird ja nicht ewig dauern.ยซ

ยปSie haben da was โ€ฆยซ

Hanna deutete auf seinen Mund und zog die Oberlippe kraus. Johan nahm sich eine Serviette von einem benachbarten Stehtisch, putzte sich damit ein Kaviarbรคllchen aus dem Mundwinkel und lieรŸ sie anschlieรŸend achtlos fallen.
Als er sich wieder umdrehte, war seine schรถne Gesprรคchspartnerin verschwunden.

Versteh einer die Frauen.

Naja, allzu viel Auswahl gab es hier zwar nicht, aber er wรผrde schon jemanden finden, den er mit seinem Charme beeindrucken konnte.

Alasdair von Hagestolz legte auf der anderen Seite des Saals einen Arm auf einem Bistrotisch ab und nippte an seinem Glas, wรคhrend er das Treiben seines Gesprรคchspartners von vorhin mit unbewegter Miene beobachtete.

ยปWas fรผr ein Windbeutel!ยซ, sagte der Mann, der mit ihm am Tisch stand. Sein militรคrisch kurzer Haarschnitt und eine gewisse Spannung in seiner Kรถrperhaltung wirkten, als gehรถre er nicht zu den Gรคsten. ยปIch kann mir nicht vorstellen, was Frรคulein Marquess an dem findet.ยซ

ยปBehandeln Sie ihn trotzdem gut, Ludwig. Er steht unter meinem Schutz!ยซ

Johan Hartung bekam nicht mit, daรŸ รผber ihn geredet wurde. Gerade als er sich einer anderen Frau nรคherte, um sie zum Tanz aufzufordern, vibrierte es in der Tasche seines Jacketts. Er sah sich hastig um, ob jemand auf ihn achtete, zog dann das Smartphone heraus und tippte aufs Display.

ยปHallo? โ€ฆ Oh Mama, ich habe nicht auf die Nummer gesehen. Die Scheinwerfer blenden gerade ein wenig โ€ฆWie, wo bin ich? Heute ist doch die Veranstaltung bei den von Hagestolz in Borgfeld. Hast Du mir nicht die Einladung besorgt โ€ฆ Du hast nicht โ€ฆ? Aber wer hat mich dann hergebeten? โ€ฆ Ist auch egal. Ich habe mit Alasdair von Hagestolz persรถnlich gesprochen. Er will mich in der nรคchsten Woche treffen โ€ฆ

Nein, ich finde das รผberhaupt nicht seltsam. Du wolltest doch, daรŸ ich Karriere mache. Jetzt ist es so weit โ€ฆ Mama, ich bin erwachsen und habe mein Studium beendet. Du willst doch Deinem einzigen Sohn jetzt keine Vorhaltungen machen โ€ฆ Ja, ich passe auf mich auf. Und jetzt wartet ein hรผbsches Mรคdel darauf, von mir zum Tanz aufgefordert zu werden โ€ฆ wir sehen uns morgen. TschรผรŸ Mama.ยซ

Er legte auf. Besser ich schalte es ganz aus. Sie bringt es fertig und ruft wieder an.
Johan kam nicht mehr dazu, jemanden anzusprechen. Eine leichte รœbelkeit, die er auf das Gesprรคch mit seiner Mutter geschoben hatte, schwoll plรถtzlich in seinem Innern an.

Habe ich etwas Verdorbenes gegessen? Ha! Diese teuren Cateringdienste kochen alle auch nur mit Wasser. Die werde ich rankriegen dafรผr! Wo sind nur die verdammten Toiletten?

Verzweifelt blickte er sich um. Das Gesichtsfeld erschien ihm plรถtzlich seltsam eingeengt. Einer der Angestellten sah, daรŸ etwas nicht stimmte, und wies ihn zu einem Durchgang.

ยปToiletten?ยซ, fragte er dort den Herrn, der sich vorhin noch mit Herrn von Hagestolz unterhalten hatte.

ยปGanz hinten, am Ende des Ganges links die Treppe hinunter.ยซ

ยปDaโ€ฆ danโ€ฆยซ Er folgte der Anweisung. Nicht mehr ganz sicher auf den Beinen erreichte er die Treppe. Dort fand er auch endlich das Hinweisschild. Er muรŸte sich an beiden Gelรคndern festhalten, sonst wรคre er gestรผrzt. Taumelnd eilte er unten in Richtung der ersehnten Tรผre und riรŸ sie auf.

2. Kapitel (Mo)

ยปEs ist sechs Uhr. Einen schรถnen guten Morgen. Es ist Zeit fรผr die Nachrichten. Eine Autobombe ist gerade in der Innenstadt explodiert.ยซ

Kriminalkommissar Torsten Jรคger schreckte hoch.

ScheiรŸe, die Woche fรคngt ja gut an!

ยปVerzeihung. Eine Autobombe ist gerade in der Hamburger Innenstadt explodiert. Bisher gibt es noch keine Informationen รผber den Hintergrund dieser Tat. Wir halten Sie wรคhrend unseres Programms auf dem Laufenden รผber neue Entwicklungen. Washington. US-Prรคsident Trump hat wรคhrend einer Pressekonferenz โ€ฆยซ

Okay, das heiรŸt, daรŸ ich noch Zeit habe, aufzustehen, ehe ich im Prรคsidium auflaufe.

Torsten schaltete mit geschlossenen Augen den Wecker aus, drehte sich um Bett und legte seine Arme um โ€ฆ einen groรŸen Teddy, der seit einiger Zeit den Platz seines Freundes im Bett neben ihm einnahm.

Ach, Vรกclav, wie ich Dich vermisse!

Er atmete einige Male tief durch, richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Blind angelte er mit den Zehen nach den Pantoffeln. Nichts. Er รถffnete die Augen. Nichts. Nur das Morgenlicht, das ihn blendete und ein Brummen im Kopf, das langsam anschwoll. Eigentlich mochte er keinen Vodka. Dennoch hatte er am Vorabend die Flasche geext. Die Zeit fรผr leckere Abendcocktails mit Vรกclav war vorbei und das Zeug muรŸte weg.

Unsicher tastete er sich durch das Zimmer, umschiffte den Stapel mit Vรกclavs gewaschener Wรคsche, der neben der Tรผr sรคuberlich zusammengelegt auf den Boden lag, und fand seine Pantoffeln schlieรŸlich im Bad.

Da stehen sie gut.

Er lieรŸ kaltes Wasser รผber die Hรคnde flieรŸen, formte damit eine Kuhle, lieรŸ sie vollaufen und tauchte sein Gesicht hinein. Glรผcklicherweise lieรŸ das Brummen unter der Schรคdeldecke jetzt nach. Etwas erfrischt stellte er sich unter die Dusche.
Danach zog er Schubladen aus der Kommode im Schlafzimmer und รถffnete die Schranktรผr. Er unterdrรผckte die Verlockung, einfach in einen Trainingsanzug zu schlรผpfen. Peter wรผrde darauf gewohnt humorlos reagieren, wenn er so im Prรคsidium auftauchte. Also zog er ein frisches Oberhemd aus dem Schrank und schlรผpfte in die Jeans von letzter Woche. Sie spannte unangenehm beim Zumachen. Mit groรŸer Anstrengung schloรŸ er den obersten Knopf. Es muรŸte sich wohl die Tage nach einer Nummer grรถรŸer umsehen. Besser gleich zwei.

Du kรถnntest auch wieder selbst kochen!

Er trank seinen Kaffee auf nรผchternen Magen und drรผckte danach angewidert die leere Vodkaflasche neben den lax zusammengefalteten Pizzakarton in den Mรผll. Eine Erinnerung weniger. Er las den Einkaufszettel, den er vor dem Schlafengehen geschrieben hatte und strich alles Alkoholische von der Liste.

Salat, Kartoffeln, Gemรผse und Obst. Hoffentlich halten die Vorsรคtze diesmal bis zum Abend.

Sie hielten genau bis zum SchnellimbiรŸ am Prรคsidium. Mit einigen Donuts und einem groรŸen Milchshake betrat er das Bรผro.

Moritz, sein Assistent, glรคnzte durch Abwesenheit. Wenn er nicht gerade Urlaub machte, war er krank oder auf Fortbildung. Derzeit befand er sich wohl in Elternzeit und Torsten wรผrde noch mindestens sechs weitere Wochen allein zurechtkommen mรผssen.

Seufzend baute er seine Einkรคufe auf dem verwaisten Schreibtisch auf. Nur den Milchshake nahm er mit an seinen Platz.

ยปDu bist spรคt.ยซ, sagte jemand in der Bรผrotรผr.

ยปIch weiรŸ. Guten Morgen Peter.ยซ

ยปMoin. Geht es Dir wieder besser?ยซ

ยปGeht so.ยซ Torsten rieb sich das Auge, in das er gerade beim Versuch, einen Schluck zu nehmen, den Strohhalm des Milchshakes gestochen hatte.

ยปIch kann Dir nicht ewig den Rรผcken freihalten.ยซ

Torsten seufzte.

ยปDu brauchst einen neuen Assistenten.ยซ

ยปIch habe doch Moritz.ยซ

ยปGuter Witz. Du benรถtigst jemanden, der Dir Arbeit abnimmt und Dich motiviert.ยซ

ยปDann gib mir Klaus.ยซ

Klaus war Peters persรถnlicher Assistent und wรคre tatsรคchlich viel besser fรผr den Job geeignet als Moritz. Unglรผcklicherweise verlieรŸ sich auch der Hauptkommissar auf seine Fรคhigkeiten.

ยปIch habe jemand, der die Anforderungen ebenfalls erfรผllt. Er hat sich gestern auf die Stelle beworben und er war sehr รผberzeugend.ยซ

ยปMoment malยซ, Torsten rieb sich immer noch die Augen, diesmal aber unglรคubig. ยปDu hast โ€ฆ eine Stelle ausgeschrieben?ยซ

ยปร„hm โ€ฆ nicht so direkt. Du arbeitest seit einem Jahr praktisch ohne Hilfe. Klar, daรŸ man dann irgendwann den รœberblick verliert.ยซ

ยปMein รœberblick ist ausgezeichnet. Warum bist Du der Meinung, daรŸ ich Hilfe benรถtige? DaรŸ sich jemand einfach auf einen Job bewirbt, der nicht ausgeschrieben ist, das glaube ich Dir nicht.ยซ

ยปEs ist aber so und ich halte ihn fรผr durchaus geeignet, Dir zu helfen.ยซ

Peter trat jetzt ins Zimmer. Ihm folgte ein schlaksiger, junger Mann, der Peter deutlich รผberragte. Da er den Kopf gesenkt hielt, fiel das aber erst auf den zweiten Blick auf.

ยปTorsten, dies ist Maximilian Waldgรคnger. Er wird Dich in der nรคchsten Zeit unterstรผtzen.ยซ

ยปBitte nennen sie mich Maxยซ, sagte der kaum vernehmbar. Er blickte auch jetzt nicht auf und versteckte seine Hรคnde in den Taschen seiner Jeans.

Torsten blickte zunรคchst fassungslos auf Peter und betrachtete dann seinen Begleiter genauer. Was er sah, gefiel ihm nicht.

Er mochte gerade Zwanzig sein, mindestens zehn Jahre jรผnger als er selbst auf jeden Fall. Der hagere, fast knochige Kรถrper, der strubbelige, schwarze Flattop, der fehlende Bartwuchs und die abstehenden Ohren unterstrichen diesen Eindruck noch. Das viel zu groรŸe T-Shirt hing รผber die Hose, etwas, das er Vรกclav nie hรคtte durchgehen lassen.

DaรŸ Peter dazu nichts gesagt hatte, wunderte ihn. Die Turnschuhe hatten bessere Zeiten gesehen und auch der kleine Rucksack, den er bei sich trug, wirkte nicht ganz sauber. Selbst die Auszubildenden in den GroรŸraumbรผros im ErdgeschoรŸ kleideten sich sorgfรคltiger.

ยปPeter, ich brauche wirklich keine Hilfe.ยซ Torsten bemรผhte sich, sein MiรŸfallen zu unterdrรผcken.

ยปDas ist keine Bitte. Ich benรถtige Dich voll einsatzbereit.ยซ

ยปIch bin einsatzbereit!ยซ

ยปDas bist Du nicht!ยซ Torsten zuckte ob des plรถtzlichen scharfen Tons zusammen. ยปIch bin nicht blind, also verkaufe mich nicht fรผr dumm. Du wirst Dir in nรคchster Zeit helfen lassen, ob es Dir paรŸt oder nicht.ยซ Peter drehte sich um. ยปUnd bring wieder Ordnung in Dein Privatlebenยซ, sagte er noch im Gehen.

Eine kleine Weile blieb es ruhig im Bรผro. Dann stand Torsten auf, atmete tief durch und reichte dem anderen die Hand.

ยปSie sind also Max. Ich bin Torsten. So ganz verstehe ich nicht, was Sie hier wollen. Nach diesem Fall im letzten Sommer halten mich doch sowieso alle fรผr seltsam.ยซ

ยปWas ich hier will, ist, daรŸ Sie mir eine Chance geben!ยซ Max schien gerade all seinen Mut zusammenzunehmen und blickte sein Gegenรผber direkt an. ยปUnd ich finde Sie gar nicht seltsam.ยซ

Torsten blickte kurz in eisblaue Augen, aber schon hatte Max seinen Blick wieder gesenkt. Gleichzeitig nahm er einen starken Geruch wahr. Es kam ihm so vor, als befรผnde sich im Zimmer irgendwo ein nasses Tier. Er zog die Nase kraus und bemรผhte sich, flach zu atmen.

ยปDas freut michยซ, antwortete er gepreรŸt.

ยปNur das mit dem Bandenkrieg, das habe ich Ihnen keine Sekunde abgenommen.ยซ

Torstens Mundwinkel zuckten. Das wunderte ihn auch nicht. Nur war es mit der Wahrheit in diesem Falle so eine Sache โ€ฆ

Auf der Suche nach einigen vermiรŸten Personen aus der Schwulenszene waren sie einem Escort namens Paolo Costa auf die Spur gekommen, dessen empathische Fรคhigkeiten derart stark waren, daรŸ man sie mangels eines besseren Terminus nur als paranormal bezeichnen konnte.

Die Polizei war ihm aber nicht als Einzige auf der Spur und bevor sie ihn zu fassen bekamen, kam es auf einem alten Militรคrgelรคnde im Umland, wo sich der Mann aufhielt, zu einem Showdown zwischen zwei Gruppen. Er fรผhrte zu vielen Toten, die laut Gerichtsmedizin alle fast zeitgleich einen Schlaganfall erlitten.

Die wenigen รœberlebenden dieses Abends waren nicht sehr gesprรคchig und das spรคrliche, das er ihnen entlocken konnte, enthielt keinerlei Fakten, die er hรคtte in einen Bericht schreiben kรถnnen. Die sich widersprechenden Aussagen waren teilweise an Absurditรคt kaum zu รผberbieten. Bis heute hatten sie diesen Fall nicht aufklรคren kรถnnen.

Der Verdรคchtige, ein junger Mann namens Paolo Costa, blieb seitdem verschwunden. Offiziell war er bei diesem Vorfall gestorben. Torsten glaubte aber nicht so recht daran.

Der Bandenkrieg war die offizielle Version, auf die er sich mit Peter und der Staatsanwรคltin geeinigt hatte.

Unglรผcklicherweise erzรคhlten einige der bei diesem Einsatz anwesenden Beamten ungeachtet ihrer Verschwiegenheitspflicht Details รผber einen Wahnsinnigen, der all die Morde quasi im Alleingang begangen habe.

Die meisten lachten sie aus.

Torsten hatte seitdem aber einen gewissen Ruf weg.

ยปDas ist Ihr gutes Recht. Eine andere Version habe ich aber nichtยซ, erwiderte er.

ยปIch verstehe.ยซ

ยปDas glaube ich kaum.ยซ Torsten machte eine Handbewegung in Richtung des verwaisten Schreibtisches von Moritz. ยปRichten Sie sich dort ein. Und dann erzรคhlen Sie mir bitte, wie Sie den Hauptkommissar dazu gebracht haben, Sie mir zuzuweisen.ยซ

ยปDas war einfach.ยซ Max stellte seinen Rucksack auf den Tisch und entnahm ihm einen Stapel notdรผrftig gehefteter Blรคtter, die er ihm reichte. ยปGestern gab es einen Polizeieinsatz in Borgfeld. Ich war โ€ฆ zufรคllig vor Ort und habe anschlieรŸend alle Informationen gesammelt und zusammengestellt.ยซ

ยปWas fรผr Informationen?ยซ

ยปLesen Sie selbst. Hier kommt schon mal der offizielle Teil.ยซ

Max hob den Beutel an, in dem Torsten seine Donuts verstaut hatte und warf einen Blick hinein. Sofort begannen seine Augen zu leuchten.

ยปBedienen Sie sich ruhig. Ich muรŸ eigentlich sowieso abnehmen.ยซ Torsten blรคtterte bereits in der Akte. ยปEin Vermisstenfall also. Ein prominenter Fall, wie es aussieht.ยซ

ยปIst diese Familie von Hagestolz denn prominent?ยซ

ยปSie sind wohl nicht von hier?ยซ

ยปStimmt.ยซ

Max hatte seinen Donut geradezu inhaliert, wischte sich die Finger an der Tรผte ab und senkte den Blick wieder.

ยปJetzt verstehe ich immerhin, warum dieser Ordner hier gelandet ist. Wer diesen Leuten indiskrete Fragen stellt, muรŸ mit dem Risiko leben, daรŸ sie sich hinterher beim Polizeiprรคsidenten beschweren. Das ist den anderen Teams wohl zu heikel.ยซ

ยปIhr Hauptkommissar wirkte jedenfalls erleichtert, als ich ihm diese Lรถsung vorgeschlagen habe.ยซ

ยปDa haben Sie beide mir ja etwas Schรถnes eingebrockt. Wie kommt es รผberhaupt, daรŸ er auf Sie gehรถrt hat?ยซ

ยปIch konnte ihn davon รผberzeugen, daรŸ Sie der Einzige sind, der diesen Fall aufklรคren kann.ยซ

Torsten fรผhlte sich plรถtzlich, als wรคre die Wirkung der Flasche Vodka vom Vorabend noch nicht ausgestanden. Ein dumpfer Druck benebelte seine Sinne und er stรผtzte seinen Kopf in die Hรคnde.

ยปIst etwas nicht in Ordnung? Sie sehen blaรŸ aus.ยซ

ยปEs geht gleich wieder. Ich glaube, ich brauche ein Aspirin.ยซ

ยปSekunde.ยซ

Max verschwand aus dem Bรผro und kam nach erstaunlich kurzer Zeit mit einem Glas Wasser und einem Blister zurรผck. Torsten drรผckte eine Tablette heraus und trank das Glas mit wenigen Schlucken ganz leer.

ยปDanke. Wie haben Sie so schnell โ€ฆ?ยซ

ยปGeben Sie es zu: Sie brauchen mich โ€ฆ meine Hilfe.ยซ

Max grinste linkisch, als er das sagte.

ยปGar nichts brauche ich! AuรŸerdem haben Sie mit Ihrer Antwort gleich drei neue Fragen aufgeworfen, die mir wesentlich mehr im Magen liegen als die Frage, warum der Hauptkommissar auf Sie gehรถrt hat.ยซ

Max blickte wieder zu Boden. Jedenfalls sah es zunรคchst so aus.

ยปNehmen Sie sich, so viel Sie wollen. Ich sehe doch, wie scharf Sie auf die Donuts sind.ยซ

Es dauerte keine drei Minuten, dann war die Tรผte leer und flog zusammengeknรผllt in den Papierkorb.

ยปDie Krรผmel und den ZuckerguรŸ hรคtten Sie wenigstens drin lassen kรถnnen. Sie wirken, als hรคtten Sie eine Woche nichts gegessen. Werden Sie so schlecht bezahlt?ยซ

ยปIch habe โ€ฆ ein Problem mit meinem Stoffwechsel.ยซ Maxโ€™ Stimme klang kaum vernehmbar. ยปEr lรคuft manchmal so auf Hochtouren, daรŸ ich mit dem Essen nicht nachkomme.ยซ

ยปSie sollten das untersuchen lassen.ยซ

ยปDas โ€ฆ habe ich. Ich muรŸ damit leben.ยซ

ยปOkay, und jetzt beantworten Sie bitte meine anderen Fragen. Wenn Sie mein Assistent werden wollen, erwarte ich plausible Antworten.ยซ

ยปร„hm โ€ฆ welche Fragen?ยซ

ยปZeigen Sie mir, daรŸ Sie sie antizipieren kรถnnen.ยซ

ยปOkay.ยซ Max blickte wieder zu Boden, aber Torsten hatte das Gefรผhl, daรŸ er diesmal dabei lรคchelte. ยปDen Hauptkommissar zu รผberzeugen war einfach. Er traut zwar Ihren diplomatischen Fรคhigkeiten nicht, aber letztlich ist er froh, den Fall von der Backe zu haben. Die zweite Frage, die nach dem inoffiziellen Teil der Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, kann ich Ihnen erst morgen beantworten. Ich weiรŸ, wo sie liegen, aber ich muรŸ sie erst โ€ฆ holen. Daraus ergibt sich dann auch, warum Sie eine von lediglich zwei Personen im Prรคsidium sind, die diesen Fall aufklรคren kรถnnen.ยซ

Max blickte wieder zu Boden und wirkte auf einmal so katatonisch, als hรคtte ihn der Wortwechsel vรถllig erschรถpft. Torsten sah sich das einige Zeit an. Dann resignierte er.

ยปOkay, Sie wollen Ihre Chance. Da ich heute wohl nichts mehr aus Ihnen herausbekomme, erhalten Sie sie morgen. Bis dahin werden Sie aber noch einige Dinge fรผr mich erledigen.ยซ

Max atmete tief durch und hob seinen Blick kurz. ยปJa?ยซ

ยปIst der Vorgang schon digitalisiert?ยซ

ยปNein.ยซ

ยปErledigen sie das als erstes. Ich erwarte die Informationen morgen frรผh in meinem Rechner vorzufinden.ยซ Torsten reichte ihm die Akte zurรผck.

ยปIch kรผmmere mich darum.ยซ Max erhob sich und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

ยปIch bin noch nicht fertig!ยซ

Der Angesprochene erstarrte in der Bewegung und senkte seinen Blick wieder.

ยปDanach werden Sie duschen. Sie riechen ein wenig nach โ€ฆ nach Haustier.ยซ

ยปIch โ€ฆ habe einen Hund.ยซ

ยปOkay, nach Hund also. Besorgen Sie sich auch etwas Vernรผnftiges zum Anziehen. So kann ich Sie nicht nach Borgfeld mitnehmen. Eigentlich kann man Sie so nirgendwohin mitnehmen.ยซ

Max errรถtete tief und blickte so starr auf den Boden, als wolle er ein Loch hineinbrennen, in das er versinken konnte.

ยปUnd essen Sie bitte genug. Nicht, daรŸ Sie mir unterwegs zusammenklappen.ยซ

ยปJawohl Herr โ€ฆ Torsten.ยซ

ยปUnd nun verschwinden Sie. Ich habe noch zu tun. Morgen frรผh Punkt Neun.ยซ

ยปJawohl.ยซ

Max verschwand im Flur. Torsten blieb nachdenklich zurรผck. Zumindest hatte er โ€“ wenn auch mit Mรผhe โ€“ seine spontane Aversion zurรผckhalten kรถnnen. Auch wenn es sonst nicht seine Art war, Kollegen zu siezen und jรผngere schon gar nicht, gab ihm das in diesem Fall die Mรถglichkeit, ein wenig Distanz aufzubauen. Falls dieser Junge sein ร„uรŸeres in den Griff bekam und falls seine Antworten ihn morgen zufriedenstellten, wรผrde er ihm eine Chance geben. Eigentlich wirkte er auf ihn zu unreif fรผr solch einen Job, aber man wรผrde sehen.

Torsten erledigte etwas Bรผroarbeit, die รผber das Wochenende aufgelaufen war. Sie ging ihm jetzt angenehm flรผssig von der Hand. So befremdend dieser Vormittag in Teilen abgelaufen war, so hatte er ihn doch aus seiner Trรผbsal herausgerissen und auf andere Gedanken gebracht.

Zwischendurch sah er die Protokolle der Befragungen durch, die jetzt einer nach dem anderen in sein Postfach trรถpfelten. VermiรŸt wurde ein Mann namens Johan Hartung. Er wurde zuletzt auf einer Veranstaltung im Hause von Hagestolz gesehen. Dort fiel sein Verschwinden aber niemandem auf. Laut der Aussagen mehrerer Hausangestellter schien ihm plรถtzlich รผbel geworden zu sein. Als er nicht wieder von den Toiletten zurรผckkam, nahm man an, daรŸ er ein Taxi genommen habe und nach Hause gefahren sei.

VermiรŸt gemeldet hatte ihn erst am Folgetag seine Mutter. Deren Aussage war wesentlich umfangreicher und steckte voller Details, die mehr รผber das Mutter-Sohn-Verhรคltnis aussagten als รผber den VermiรŸten.

Vielleicht ist er einfach abgehauen, weil er es mit ihr nicht mehr ausgehalten hat.
So ganz verstand er nicht, warum er sich mit solch einem Fall beschรคftigen muรŸte, denn es gab derzeit keinerlei Anhaltspunkte, daรŸ diesem Johan Hartung etwas anderes zugestoรŸen sei, als daรŸ er irgendwo seinen Rausch ausschlief. Normalerweise regelten so etwas die Reviere vor Ort.

Er stand auf, ging zu Peters Bรผro und trat ein, ohne anzuklopfen. Als er sah, daรŸ sein Vorgesetzter telefonierte, setzte er sich auf den Besucherstuhl und wartete, bis das Gesprรคch beendet war und Peter von seinem Notizblock aufblickte.

ยปWas willst Du noch? Ich dachte, wir hรคtten alles geklรคrt.ยซ

ยปHaben wir nicht. Das hier ist doch kein Fall fรผr uns.ยซ

ยปNicht direkt. Allerdings gibt es da zusรคtzliche Gesichtspunkte, die wir berรผcksichtigen mรผssen.ยซ Peter fixierte dabei einen Punkt auf seinem Schreibtisch.

ยปOkay, wer ist der VermiรŸte bzw. wer ist seine Mutter?ยซ

ยปSie ist โ€ฆ ihr verstorbener Mann war lange Jahre Prรคsident der Bรผrgerschaft.ยซ

ยปOkay, daher kenne ich den Namen. Und sie hat so viel EinfluรŸ?ยซ

ยปSie nicht, aber einige der Leute, die sie kennt und anscheinend um Hilfe gebeten hat. Glaube mir, daรŸ ich keine andere Wahl habe, als jemand darauf anzusetzen.ยซ

ยปAber warum ich und vor allen: warum dieses Kind?ยซ

ยปWeil Du jemanden brauchst, der Dir wieder die Laufarbeit abnimmt und weil sonst niemand โ€ฆ Du weiรŸt, daรŸ Du nicht sehr beliebt bist seit dieser Sache damals.ยซ

ยปIch habe mir nichts vorzuwerfen. AuรŸerdem bin ich nicht derjenige, der รผber Paolo Costa geredet hat.ยซ

ยปNatรผrlich nicht. Du hast den Fall seinerzeit fast im Alleingang gelรถst und deshalb halte ich Dir auch den Rรผcken frei.ยซ

ยปDas sehe ich.ยซ

ยปVersteh mich doch. Irgend jemand muรŸ es tun und die Leute, die mir im Nacken sitzen, erwarten, daรŸ es jemand Kompetentes ist. Du bist mein bester Mann.ยซ

ยปWow, ein Lob aus Deinem Munde. Ich werde mir den Tag rot im Kalender anstreichen.ยซ

ยปรœbertreib es nicht!ยซ

ยปUnd dieses โ€ฆ dieser Max Waldgรคnger รผberzeugt mich auch nicht. Er lรครŸt sich jedes Wort aus der Nase ziehen und erzรคhlt etwas von inoffiziellen Informationen, die er mir bis morgen besorgen will.ยซ

ยปEr war sehr begierig darauf, mit Dir zusammenzuarbeiten. Hoffentlich ist es nicht, weil er Dich lediglich โ€ฆ interessant findet. Ich weiรŸ ja nicht, was man in Deiner Szene anstellt, um jemanden nรคher kennenzulernen.ยซ

ยปEs gibt keine besonderen Umgangsformen und es ist nicht meine Szene. Manchmal weiรŸ ich nicht mal, ob es in Bremen รผberhaupt eine Szene gibt, die diesen Namen verdient.ยซ Torsten bemerkte, daรŸ er sich gerade in Rage redete und bemรผhte sich, seinen ร„rger zu kanalisieren. ยปAuรŸerdem glaube ich nicht, daรŸ dieser Junge schon einmal Sex hatte und daรŸ Du ihn fรผr schwul hรคltst, wundert mich.ยซ

Der Hauptkommissar zuckte bei der Nennung des Wortes schwul zusammen, sagte aber nichts.

ยปGut, an Deinen Vorurteilen arbeiten wir spรคter. Jetzt werde ich die Befragung nachholen, die man gestern offensichtlich vergessen hat.ยซ

ยปSei bitte vorsichtig. Diese Leute werden nicht zรถgern, uns das klarzumachen, wenn Du sie vor den Kopf stรถรŸt.ยซ

ยปBesitzen sie mehr EinfluรŸ als die Mutter des VermiรŸten? Vielleicht sollte ich es darauf anlegen. Ich wollte diesen Fall nicht. Wenn es denn einer ist.ยซ

ยปDas meinst Du nicht ernst.ยซ

ยปEs gibt keinen Grund fรผr sie, nicht mit mir zu reden. Und wenn ihnen meine Fragen nicht gefallen, stecken sie in der Sache mit drin.ยซ

Torsten stand auf und ging gruรŸlos. Jetzt galt es, diese Angelegenheit schnellstmรถglich zu klรคren. Mit Chance hatte dieser Hartung sich bereits wieder irgendwo gemeldet und wenn nicht โ€ฆ

Er suchte aus den Protokollen dessen Handynummer heraus. Die ermittelnden Beamten hatten gestern bereits mehrfach versucht, dort anzurufen, strandeten aber auf der Mailbox.

So erging es auch Torsten.

Er setzte sich kurz an seinen Rechner und schrieb eine Auskunftsanfrage an den Provider, dem die SIM-Karte im Handy des VermiรŸten gehรถrte. Dann druckte er aus den spรคrlichen Unterlagen einige Bilder aus, auf denen der VermiรŸte einigermaรŸen klar zu erkennen war. Danach verlieรŸ er das Prรคsidium und stieg auf sein Fahrrad. Wenn er es schon nicht schaffte, wieder Gewicht zu verlieren, wollte er zumindest fit bleiben.

Als er die HeerstraรŸe stadtauswรคrts fuhr, erschien es ihm, als folge ihm jemand. Er drehte sich mehrmals um, entdeckte aber nichts auรŸer einem streunenden Hund, der eine kurze Strecke hinter ihm herlief und dann in die Grรผnanlage des Rhododendronparks abbog.

Vielleicht sitzt irgendwo ein Spanner hinter einem Fenster.

Sowas sollte es geben. Am besten ignorierte er das Gefรผhl. Er trat in die Pedale und kam etwas auรŸer Atem nach einer Weile in der SeitenstraรŸe im noblen Stadtteil Oberneuland an, in der sich das Haus derer von Hagestolz befand. Alte Bรคume standen auf beiden Seiten und รผberschatteten die StraรŸe. Zusammen mit den blickdicht bewachsenen Hecken an den Grundstรผcksgrenzen ergab sich der Eindruck, durch einen grรผnen Tunnel zu fahren.

Es gibt wohl schlimmere Schicksale als hier zu leben.

In groรŸzรผgig bemessenen Abstรคnden befanden sich Einfahrten zu den Grundstรผcken. Vor einem besonders groรŸen Areal befand sich sogar ein Tor.
Hier muรŸ es sein, auch wenn sie alles gut gegen Einblick geschรผtzt haben. Die Hausnummer stimmt. Verflixt, was riecht hier so stark nach Katzenpisse?

Mit Genugtuung nahm er zur Kenntnis, daรŸ die Buchsbaumhecke im nรคchsten Sommer nicht mehr hier stehen wรผrde. An mehreren Stellen zeigten sich nรคmlich kleine, gelbe Bereiche.

Der Gestank ist bald weg. Die Zรผnsler werden dafรผr sorgen.

Er drรผckte den Klingelknopf an der Gegensprechanlage neben dem Tor.

ยปHallo?ยซ

ยปJรคger, Kriminalpolizei. Ich hรคtte noch einige Fragen.ยซ

ยปMelden Sie sich bitte vorher an.ยซ

ยปIch kann Sie auch vorladen, wenn Ihnen das lieber ist.ยซ

Eine Antwort erhielt er nicht, aber der Summer ertรถnte und ein Torflรผgel schwang auf. Dahinter offenbarte sich eine Reetdach-Villa auf einer groรŸzรผgigen Flรคche mit englischem Rasen. Nach hinten schlossen sich einige Nebengebรคude an. Er schob sein Rad die Einfahrt entlang und lehnte es neben der Eingangstรผre an die Wand.

ยปHinten herum. Und nehmen Sie bitte Ihr Gefรคhrt mit.ยซ Auch die Eingangstรผr besaรŸ eine Sprechanlage.

Gehorsam schob er sein Rad den Kiesweg entlang, der links um die Villa herumfรผhrte. Trotz ihrer GrรถรŸe wirkte sie dabei nicht klotzig. Der Architekt verstand offensichtlich sein Handwerk und hatte die Konturen mit einer Vielzahl geschwungener Linien abgemildert.

Hinter dem Haus nahm ihn eine Dame in Empfang. Das glatte und faltenlose, dezent geschminkte Gesicht hรคtte durchaus einer Zwanzigjรคhrigen gehรถren kรถnnen, die Pigmentflecken auf dem freien Stรผck Haut รผber dem Dekolletรฉ aber nicht.

ยปIhren Dienstausweis bitte!ยซ, sagte sie jetzt barsch.

ยปTorsten Jรคger, Kriminalkommissar.ยซ Torsten zeigte ihn vor, nachdem er sein Fahrrad wieder gegen die Wand gelehnt und sich dafรผr einen giftigen Blick eingefangen hatte. ยปUnd mit wem habe ich die Ehre?ยซ

ยปValerie Hagestolz-Bรถhm.ยซ Sie studierte das Dokument akribisch und tippte einige Daten in ihr Smartphone. Dann รถffnete sie eine Flรผgeltรผre schritt hindurch und winkte ihm, ihr zu folgen.

Torsten sah sich um. Der Raum besaรŸ die Dimension einer Dreizimmerwohnung und wurde offensichtlich als Diele genutzt. Davon zeugten einige Bauernschrรคnke und ein รผberdimensionales Buffet. Alle Mรถbel waren sorgfรคltig restauriert worden und auf dem Buffet stand auf einem Platzdeckchen eine groรŸe, eifรถrmige, pastellfarbene Vase, bei deren Anblick sich Torsten spontan an Bord des Raumfrachters Nostromo versetzt fรผhlte. Mit einem leisen Schaudern wandte er sich der Dame zu, die ihn hereingebeten hatte.

ยปIch bin eine Cousine des Hausherrn. Wie kann ich Ihnen noch helfen?ยซ

ยปWaren Sie bei der Feier vorgestern Abend anwesend?ยซ

ยปEs handelte sich um einen Empfang.ยซ

ยปOkay. Waren Sie bei dem Empfang vorgestern Abend anwesend?ยซ

ยปNein. Das heiรŸt, nur am frรผhen Abend.ยซ

ยปWo waren Sie danach?ยซ

ยปFragen Sie mich allen Ernstes nach einem Alibi? Solch eine Behandlung sind wir von Ihrer Behรถrde nicht gewohnt.ยซ

ยปUnd ich bin es nicht gewohnt, daรŸ in einem Haus wie dem Ihrigen Leute einfach verschwinden. AuรŸerdem befremdet es mich, daรŸ Sie die Sache gleich so hoch hรคngen, wo ich Ihnen doch nur freundlich eine Frage gestellt habe.ยซ

ยปIch war bei den Nachbarn.ยซ Sie wies auf das Haus nebenan. ยปDie Herrschaften sind gerne unter sich. Meine Anwesenheit wurde nur zu den Vorbereitungen benรถtigt.ยซ Ihr Mienenspiel zeigte eine Mischung aus ร„rger und Verlegenheit.

ยปIst denn jemand hier, der mir mehr sagen kann?ยซ Torsten verhielt sich taktvoll und bohrte nicht weiter nach.

ยปDie Caterer mรถglicherweise.ยซ

ยปEs kann doch nicht sein, daรŸ von der ganzen Familie niemand anwesend war.ยซ

ยปDer Hausherr natรผrlich, Alasdair von Hagestolz, und Hanna glaube ich.

ยปDann mรถchte ich mit beiden Personen reden.ยซ

ยปSie wollen den Hausherrn vernehmen? Das dรผrfte Konsequenzen fรผr Ihre berufliche Laufbahn haben.ยซ

ยปZunรคchst wird es Konsequenzen fรผr Sie persรถnlich haben, wenn Sie nรคmlich meine Ermittlungen behindern. Wollen Sie das?ยซ

Torsten sah, daรŸ er hier mit Freundlichkeit nicht weiterkam. Er hatte nicht vor, sich einschรผchtern zu lassen und lieรŸ es daher auf eine Konfrontation mit der Doppelnamendame ankommen.

ยปNa, na, na, hier will doch sicher niemand einen Streit vom Zaun brechen, oder?ยซ
Die sonore Stimme gehรถrte einem Herrn, der plรถtzlich neben ihnen stand, ohne daรŸ einer der Beiden ihn kommen gesehen hatte. Beide zuckten synchron zusammen.

ยปAlasdair, dieser Herr mรถchte mit Dir โ€ฆยซ

ยปIch habe alles vernommen. Eure Unterredung hรถrt man im ganzen Haus. Danke, daรŸ Du versucht hast, mich zu schรผtzen. Ich รผbernehme das jetzt. Du kannst Dich bestimmt anderswo nรผtzlich machen.ยซ

Valerie Hagestolz-Bรถhm sah aus, als wolle sie widersprechen, aber etwas in der Stimme des Patriarchen hielt sie davon ab. Mit einem gemurmelten ยปJa, ich habe noch zu tunยซ entfernte sie sich.

ยปKommissar, ich freue mich, Sie kennenlernen zu dรผrfen. Wie geht es Ihnen?ยซ
Torsten schรผttelte die dargebotene Hand und registrierte verwundert die Kraft des Hรคndedrucks. Er nahm sein Gegenรผber genauer in Augenschein. Auch dieses Gesicht erschien alterslos. Allerdings wirkte es natรผrlicher als die Zรผge der Dame eben. Die moosgrรผnen Augen strahlten und er hielt sich mit einer Spannkraft aufrecht, die er einem โ€“ wie alt mochte er sein? Sicher Achtzig โ€“ jรคhrigem nicht zugetraut hรคtte.

ยปHerr von Hagestolz, die Ehre ist auf meiner Seite. Ich freue mich, daรŸ Sie Zeit fรผr mich finden.ยซ

ยปValerie versucht, unangenehmes von mir fernzuhalten, aber ich habe gehรถrt, daรŸ Herr Hartung vermiรŸt wird. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoรŸen. Er wirkte etwas derangiert, als ich ihn zuletzt sah.ยซ

ยปWann haben Sie ihn zuletzt gesehen?ยซ

ยปVorgestern Abend auf unserem Empfang. Ich rede mit all meinen Gรคsten, auch wenn ich nicht weiรŸ, wer ihn eingeladen hat.ยซ

ยปEr war ohne Einladung hier?ยซ

ยปSicher nicht. Dann hรคtte man ihn nicht hereingelassen. Ich meine nur, daรŸ er nicht auf der Gรคsteliste stand, als ich sie zuletzt gesehen habe. Jemand muรŸ ihn nachtrรคglich hinzugefรผgt haben.ยซ

ยปWas meinten Sie mit derangiert?ยซ

ยปIch mรถchte den Herrn nicht kompromittieren.ยซ

ยปIch verstehe.ยซ

Torsten blickte sein Gegenรผber fragend an und tatsรคchlich fรผgte der nach kurzem Nachdenken noch etwas hinzu.

ยปEr hat in kurzer Zeit sehr viel gegessen und getrunken. Mรถglicherweise ist ihm das nicht bekommen. Zuletzt eilte er in Richtung der sanitรคren ร–rtlichkeiten.ยซ

ยปHaben Sie ihn danach noch gesehen?ยซ

ยปLeider nein. Ich hรคtte die Unterhaltung gern vertieft. Der junge Mann war โ€ฆ vielversprechend.ยซ

Ihre Cousine erwรคhnte eine Hanna. Vielleicht weiรŸ sie mehr.ยซ

ยปHanna Marquess ist meine GroรŸnichte. Sie wohnt nicht hier, aber wenn Sie mir Ihre Karte รผberlassen, sorge ich dafรผr, daรŸ sie sich bei Ihnen meldet.ยซ

ยปDas ist sehr freundlich.ยซ Torsten reichte ihm seine Visitenkarte. Ihre Hรคnde berรผhrten sich kurz und der andere klopfte ihm mit der anderen Hand wie beilรคufig auf den Ellenbogen.

ยปUnd jetzt habe ich zu tun. Sie haben bestimmt keine Fragen mehr an mich. Fahren Sie jetzt zurรผck. Sie finden allein hinaus.ยซ

Fรผr den Bruchteil einer Sekunde wirkte er plรถtzlich gebrechlich und man sah ihm sein Alter an. Dann fing er sich wieder und verlieรŸ rasch den Raum.

Torsten ging wortlos nach drauรŸen, nahm sein Rad, schob es zurรผck ums Haus und die Einfahrt entlang. Der Torflรผgel schwang auf und er fand sich auf der StraรŸe wieder.

Was war das gerade? Ich hรคtte nachhaken mรผssen, aber ich bin einfach gruรŸlos gegangen.

Aus dem Augenwinkel sah er einen Hund รผber die StraรŸe laufen, aber als er hinblickte, war dieser schon verschwunden. Kopfschรผttelnd setzte er sich auf sein Rad und fuhr in Richtung Stadt.

Wie er zurรผck zum Polizeiprรคsidium gekommen war, hรคtte er spรคter nicht erklรคren kรถnnen. Er schreckte hoch, als er ein lautes Fingerschnippen hรถrte und jemand einen Kaffeebecher mit einem leisen Knall vor ihm auf dem Tisch absetzte, und blickte in die Augen seines neuen Helfers.

ยปSie sehen aus, als kรถnnten Sie den brauchen.ยซ Maxโ€™ Lรคcheln war kaum wahrnehmbar.

ยปWie โ€ฆ wie lange sitze ich schon hier?ยซ

ยปNur ein paar Minuten. Sie sahen mรผde aus, als Sie zurรผckkamen. Wie ist die Befragung gelaufen?ยซ

ยปWenn ich das wรผรŸte. Ich habe mit Alasdair von Hagestolz gesprochen. Er hat mit dem VermiรŸten geredet und ihn zuletzt auf dem Weg zu den Toiletten gesehen. Er wollte das Gesprรคch mit ihm vertiefen โ€ฆ hat er zumindest gesagt. Dann hat er mich weggeschickt.ยซ

ยปSie haben sich wegschicken lassen?ยซ

Torsten trank einige Schlucke aus dem Becher. Das Getrรคnk war kein Kaffee, aber es belebte ihn.

ยปJa, seltsam was?ยซ

ยปTrinken Sie noch etwas. Wenn Sie ausgetrunken haben, wird Ihnen besser gehen.ยซ

ยปWas ist das?ยซ

ยปEine spezielle Krรคutermischung mit Honig.ยซ

ยปDie haben Sie einfach so dabei. Was bewirkt sie?ยซ

ยปSie schmeckt gut und entspannt. Mir schien, daรŸ sie das jetzt brauchen.ยซ

Torsten trank den letzten Schluck und fรผhlte sich tatsรคchlich erfrischt. Seine Konzentration kehrte zurรผck und mit ihr die Fragen.

ยปWas zur Hรถlle ist mit mir passiert? Ich erinnere mich nicht, wie ich zurรผckgekommen bin. Ein Wunder, daรŸ ich keinen Unfall mit dem Rad gebaut habe.ยซ

ยปWas ist das letzte, an das Sie sich erinnern?ยซ

ยปIch habe dem alten von Hagestolz meine Visitenkarte gegeben. Dann hat er mich irgendwie komisch angefaรŸt und gesagt, ich solle gehen.ยซ

ยปWas hat er genau gesagt?ยซ

ยปIch โ€ฆ ich โ€ฆ weiรŸ es nicht. Ich wollte ihn noch etwas fragen, aber mir ist plรถtzlich nichts mehr eingefallen. Da erschien es mir ganz natรผrlich, zu gehen.ยซ

Beide schwiegen fรผr eine Weile, aber in Torsten arbeitete es sichtbar. SchlieรŸlich hieb er mit der Faust auf den Tisch, daรŸ der Lรถffel im Becher leise klirrte.

ยปVerdammt will ich sein. Ich dachte immer, ich wรคre gegen Hypnose Immun. Vor allem wundere ich mich, wie schnell er das geschafft hat.ยซ

ยปGeben Sie Blitzhypnose in die Suche ein. Ich denke, das erklรคrt es.ยซ

Torsten tippte eine Weile auf seiner Tastatur herum. Dabei wurden seine Augen immer grรถรŸer. SchlieรŸlich schรผttelte er heftig den Kopf. Dann winkte er Max herbei und streckte die Hand aus.

ยปTorsten.ยซ

ยปMax.ยซ

ยปOkayยซ, Torsten blickte auf die Uhr, ยปnachdem das geklรคrt wรคre, machen wir fรผr heute Feierabend. Was machst Du noch?ยซ

ยปEssen kaufen!ยซ

ยปWitzbold. Vorher kommst Du mit mir. Ich habe etwas fรผr Dich.ยซ

ยปOkay?ยซ

ยปWir treffen uns um 19 Uhr am Leibnizplatz.ยซ

ยปOkay.ยซ

Max erhielt keine Antwort auf die nicht gestellte Frage. Sie rรคumten ihre Sachen zusammen, verlieรŸen gemeinsam das Bรผro und gingen wortlos รผber das Gelรคnde. Vor dem Haupteingang trennten sich ihre Wege. Max ging stracks in Richtung StraรŸenbahn und Torsten bog zum Fahrradstรคnder ab.

Als Max am Leibnizplatz pรผnktlich um Sieben eintraf, erwartete Torsten ihn bereits. Er nickte ihm zu, deutete dann in eine Richtung und Max trottete gehorsam neben ihm her.

Torsten war zwar mit dem Fahrrad erschienen, schob es aber einfach nur. Die tiefstehende Sonne warf lange Schatten und ein kรผhler Wind strich durch die SeitenstraรŸen mit den Altbremer Hรคusern.

An einem ImbiรŸ stoppten sie kurz und Torsten kaufte zwei Dรถner.

ยปDamit kannst Du รถffentlich auftreten.ยซ Er staunte immer noch รผber die Geschwindigkeit, mit der Max sein Essen vertilgte. Er selbst hatte nur einige Bissen geschafft, da hatte Max seine Tรผte schon leer gegessen. ยปDu kannst den Rest von meinem auch noch haben, wenn Du magst.ยซ

ยปMmmhh โ€ฆยซ

Kopfschรผttelnd verfolgte er den Rest des Mahls. Max lieรŸ lediglich ein Stรผck Brot รผbrig.

Danach gingen sie weiter.

ยปWarte hier.ยซ, sagte Torsten, als sie vor seinem Haus ankamen. Er schob sein Rad in den Hausflur, verschwand kurz in seiner Wohnung und kehrte mit zwei gut gefรผllten, groรŸen Plastikbeuteln zurรผck, die er Max reichte.

ยปDie sind fรผr Dich. Vรกclav ist nicht ganz so groรŸ wie Du, aber ihr habt die gleiche Figur. Er wird seine Sachen nicht mehr abholen und solange sie bei mir liegen, vergiften sie meine Gedanken.ยซ

ยปDas kann ich nicht annehmen.ยซ

ยปNatรผrlich kannst Du. Ich tue das ganz eigennรผtzig. Nun nimm schon. Nur waschen muรŸt Du sie selbst. Bei mir sind sie ziemlich eingestaubt.ยซ

Max bedachte Torsten mit einem langen Blick. Dann nickte er ihm zu, nahm die Beutel, drehte sich um und zog wortlos ab.

3. Kapitel (Di)

Torsten fรผhlte sich viel besser, als er am nรคchsten Morgen aufstand. Gut, daรŸ der Vodka alle war. Der frische Salat, den er sich vor dem Schlafengehen noch zubereitet hatte, tat ihm gut und kaum, daรŸ er im Bett lag, schlief er auch schon.

So betrat er schon um halb Neun das Prรคsidium. Auf dem Flur traf er Peter.

ยปGute Arbeit, Torsten!ยซ, begrรผรŸe der ihn.

ยปDu kennst doch meinen Bericht noch gar nicht.ยซ

ยปDas muรŸ ich nicht. Ich hatte heute morgen keine Beschwerde auf meinem Schreibtisch und keinen Polizeiprรคsidenten in der Leitung. Irgendwas muรŸt Du also richtig gemacht haben.ยซ

ยปDu mich auch.ยซ

Torsten lieรŸ seinen Vorgesetzten stehen und marschierte zu seinem Bรผro. Dort traf er Max, der gerade vor einem groรŸen Stapel belegter Brote saรŸ.

ยปMahlzeit.ยซ

ยปMmhโ€ฆmmh.ยซ

ยปDie neuen Sachen stehen Dir.ยซ

ยปDanโ€ฆke.ยซ

Max schluckte den letzten Bissen hinunter. Er trug tatsรคchlich ein T-Shirt und eine Jeans von Vรกclav und wirkte so wesentlich ordentlicher als am Vortag. Auch der Geruch nach nassem Hund hatte sich zugunsten eines leichten Zitronenaromas verflรผchtigt.

ยปWo hast Du eigentlich meine Akten hingerรคumt?ยซ Torsten blickte entgeistert auf seinen leeren und blitzsauber gewischten Schreibtisch.

ยปDorthin.ยซ Max deutete auf den Metallschrank fรผr die Hรคngeregistraturen.

ยปBist Du verrรผckt? Die Papiere waren sรคuberlich geordnet! Wie soll ich jetzt โ€ฆยซ

Torsten wollte aufspringen, als sein Blick auf den Desktop seines Rechners fiel. ยปWieso ist der an? Was ist โ€ฆยซ

Auf dem Desktop befanden sich eine Reihe neuer Ordner mit Namen wie ‘offene Fรคlle’, ‘geschlossene Fรคlle’, ‘Notizen’, ‘Faxe’ und ‘Privat’.

ยปWarst Du das?ยซ Max nickte. ยปWoher zur Hรถlle kennst Du mein PaรŸwort?ยซ

ยปDas klebte an Deinem Bildschirm.ยซ Max hielt ein Post-it hoch und biรŸ seelenruhig in das nรคchste Brot. ยปIch bin schon zwei Stunden hier und habe in der Zwischenzeit Deine Unterlagen gescannt und sortiert.ยซ

Als er sah, daรŸ sein Gegenรผber kurz davor war, ihn anzuschreien, fรผgte er noch ein ยปIch hole Dir einen Kaffee.ยซ hinzu und verlieรŸ den Raum mit verblรผffender Geschwindigkeit, nicht ohne das angebissene Brot mitzunehmen.

Torsten blieb heftig atmend zurรผck. Was bildet dieses Kind sich ein? Er soll mich entlasten und nicht meine Ordnung durcheinanderbringen!

Testweise klickte er auf den Ordner ‘offene Fรคlle’. Darunter befanden sich mehrere Unterordner. Unter ‘Johan Hartung’ stieรŸ er auf die chronologisch geordnete Liste der bisherigen Unterlagen zum Fall. In einige PDFs hatte Max Kommentare eingefรผgt, teilweise mit Fragen, die sich Torsten auch gestellt hatte. Der Provider von Hartungs Handy schrieb, daรŸ das Telefon zuletzt in Borgfeld eingebucht war und seit dem frรผhen Sonntagmorgen ausgeschaltet sei.

Als letztes fand er ein Textdokument mit einer Zusammenfassung dessen, was er Max von der Befragung am Vortag erzรคhlt hatte. Als dieser mit zwei Bechern zurรผck kam und einen vor Torsten auf den Tisch stellte, klickte der sich zunehmend fasziniert durch die anderen Ordner. Am lรคngsten verweilte er unter ‘Notizen’, in dem sich handschriftlich gefรผllte Zettel befanden.

ยปDie habe ich alle dort abgelegt, weil ich Deine Schrift nicht so gut lesen kann.ยซ

ยปWarst Du in einem frรผheren Leben Diplomat?ยซ Torsten lachte auf. ยปIch kenne meine Klaue. Meine Gรผte, den Zettel suche ich seit Tagen. Wo hast Du den gefunden?ยซ

ยปDen?ยซ Max warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. ยปDer klebte unter der Tastatur. Zu viel Zucker im Kaffee ist ungesund.ยซ

ยปOkay. Ich denke, ich kann damit leben. Trotzdem wirst Du mich beim nรคchsten Mal vorher fragen, verstanden?ยซ

ยปKlar.ยซ Max setzte sich wieder an seinen Platz und griff zum nรคchsten Brot. ยปWasch machn wir heude?ยซ nuschelte er zwischen zwei Bissen.

ยปZunรคchst wirst Du mir mehr รผber den inoffiziellen Teil Deiner Recherchen im Fall Hartung erzรคhlen.ยซ

ยปMomentยซ, Max klickte an seinem Rechner einige Male mit der Maus und schrieb einige Anschlรคge auf der Tastatur, ยปjetzt sieh auf Deinen Desktop.ยซ

Torsten fixierte den Bildschirm, auf dem in diesem Augenblick eine neue Verknรผpfung namens ‘Top Secret’ erschien.

Das gefรคllt mir nicht. Ich muรŸ unbedingt mein PaรŸwort รคndern!

Er รถffnete den Link. Der zugehรถrige Ordner enthielt Fotos einer Reihe alter Zeitungsausschnitte. Der Jรผngste von 1979 stammte aus den Bremer Nachrichten und erregte sofort Torstens Aufmerksamkeit.
‘Senatorensohn vermiรŸt!
Wie uns die Polizei erst heute mitteilte, wird bereits seit mehr als einer Woche der 28-jรคhrige Alexander Timpe vermiรŸt. Der Sohn der Bildungssenatorin wurde zuletzt auf einer Party in der Nobeldisco “Radscha” gesehen. Fรผr Hinweise, die zum Auffinden von Alexander Timpe fรผhren, haben die Eltern eine Belohnung von 5.000 DM ausgesetzt.’

Das Foto dazu erschien ihm vage bekannt, verriet aber durch das grobe Raster zu wenige Details.

ยปDas ist ja ziemlich genau vierzig Jahre her.ยซ

ยปFast auf den Tag genau.ยซ, bekrรคftigte Max.

Torsten sah die weiteren Ausschnitte durch. 1938 in den Bremer Nachrichten mit Weser Zeitung, 1860 und 1899 wieder in den Bremer Nachrichten’ sowie einige noch รคltere Quellen. Immer ging es um mehr oder weniger prominente junge Mรคnner, die vermiรŸt wurden.

ยปDu willst doch nicht sagen, daรŸ es da einen Zusammenhang gibt?ยซ Torsten warf einen strengen Blick auf Max, der die Augen senkte und schwieg. ยปWo hast Du die Zeitungsausschnitte รผberhaupt her?ยซ

ยปAuf einem Dachboden โ€ฆ gefunden.ยซ

ยปWeiรŸ der Hauptkommissar davon?ยซ

ยปNein.ยซ Max folgte einer Fliege an der Fensterscheibe mit seinem Blick.

ยปWarum nicht?ยซ

ยปDas muรŸte ich nicht. Er war von Anfang an der Meinung, daรŸ nur Du diesen Fall lรถsen kannst. Ich habe ihn nur darin bestรคrkt und mich ins Spiel gebracht.ยซ

ยปJa, ja, seine Beweggrรผnde kenne ich.ยซ Torsten stutzte. ยปMoment, Du hast Dich ins Spiel gebracht? Was ist denn mit Deinen Beweggrรผnden?ยซ

ยปJa.ยซ Maxโ€™ Gesichtsfarbe verdunkelte sich um einige Nuancen. Er knetete seine Hรคnde eine kleine Weile unter dem Tisch. Torsten wartete geduldig, bis er weitersprach. ยปEs war meine Chance, endlich richtige Polizeiarbeit zu machen. Deswegen bin ich hier.ยซ

ยปMax, die ganze Geschichte bitte.ยซ

Sein Gegenรผber sank ob des kalten Tonfalls auf seinem Stuhl zusammen. Kurz sah es so aus, als wรผrde er die Fassung verlieren. Dann sagte er noch leiser, so als wรผrde er ein Selbstgesprรคch fรผhren: ยปIch arbeite eigentlich im hausinternen Botendienst.ยซ

ยปWarst Du jemals auf der Polizeischule?ยซ

ยปIch habe die Aufnahmeprรผfung nicht geschafft. Ich bin nicht โ€ฆ sportlich genug.ยซ
Maxโ€™ Stimme war jetzt kaum noch zu hรถren. Mit hochrotem Kopf saรŸ er da wie ein Hรคufchen Elend.

Torsten unterdrรผckte energisch den Impuls, ihn in den Arm zu nehmen und zu trรถsten. Er sollte einfach eine vermiรŸte Person finden und dieser Junge hatte seine Nachforschungen gerade unnรถtig verkompliziert. Was stellte er sich vor, wie die Arbeit hier ablief? Mit diesen alten Zeitungsausschnitten konnte man jedenfalls nichts anfangen. Das hier war ein Fall aus der Gegenwart und er wรผrde diesen Johan Hartung bald ausfindig machen, ihn am Schlafittchen packen und bei seiner Mutter fรผr das fรคllige Donnerwetter abliefern.

Er schluckte seinen ร„rger hinunter โ€“ allzuviel war es nicht โ€“ und bemรผhte sich um einen sachlichen Tonfall.

ยปMax, Du muรŸt doch verstehen, daรŸ das so nicht geht. Ich muรŸ hier professionell arbeiten und dazu brauche ich Mitarbeiter, die fรผr ihren Job auch qualifiziert sind.ยซ

Sein Gegenรผber nickte kaum wahrnehmbar. Dann hob er den Kopf und sah ihm ins Gesicht. In seinen Augen standen Trรคnen.

ยปPaรŸ auf, wir machen einen Deal. Ich will Dir nicht schaden. Du hast schlieรŸlich nichts Bรถses gewollt. Ich werde also das, was hier gestern und heute passiert ist, unter der Decke halten. Ich erwarte aber, daรŸ Du ab morgen wieder beim Botendienst arbeitest.ยซ

ยปAber der Hauptkommissar โ€ฆยซ

ยปIch rede mit ihm. Er wird das verstehen.ยซ

Max zog ein รผberdimensionales Stofftaschentuch aus der Tasche seiner Jeans und schnaubte gerรคuschvoll hinein.

ยปDankeยซ, flรผsterte er kaum hรถrbar.

ยปUnd jetzt nimm Dir den Rest des Tages frei. In dieser Verfassung bist Du fรผr niemanden eine Hilfe.ยซ

Wortlos stand Max auf, griff seine Tasche und stopfte das letzte Brot hinein. Dann schlich er mit eingezogenem Kopf aus dem Bรผro.

Torsten griff zum Hรถrer und wรคhlte eine Nummer.

ยปHausverwaltung?ยซ

ยปJรคger, Kripo Bremen, Guten Tag. Sie verwalten doch die Wohnanlage Grollander Grรผn?ยซ

ยปStimmt, womit kann ich helfen?ยซ

ยปIn einem Ihrer Apartments wohnt ein Johan Hartung. Er wird seit einigen Tagen vermiรŸt. Ich mรถchte mir seine Wohnung ansehen.ยซ

ยปAh, das stand in der Zeitung. Bei uns ist das also.ยซ

ยปIch bin in einer halben Stunde vor der Anlage. Ich benรถtige jemanden mit einem Generalschlรผssel.ยซ

ยปIch kรผmmere mich darum. Wie war noch Ihr Name?ยซ

ยปTorsten Jรคger, Kriminalpolizei. Bis gleich.ยซ

Ich nehme besser den Wagen. Das Erlebnis gestern reicht mir.

Er legte auf und saรŸ noch fรผr einige Minuten dumpf brรผtend vor seinem Rechner. Bevor er den Ordner schloรŸ und den Rechner sperrte, druckte er einen der Scans aus, faltete ihn zusammen und steckte ihn in seine Jacke.

Er ging spazieren. Um ihn herum befanden sich die wuchtigen Mauern des Kreuzgangs, die die Gartenanlage begrenzten. Ein Rosenstock wuchs an der Apsis der Kirche. Er ging dort hin und betrachtete, wie er รผber ein Dutzend Meter Hรถhe, die die halbrunde Mauer hochwuchs. Wie alt mochte er sein? Fรผnfhundert Jahre? Er erinnerte sich, daรŸ er den Stock frรผher schon gesehen hatte, als er noch viel kleiner war. Er brach eine der Blรผten und roch daran. Ein schwacher, feiner Duft mit einer leichten Note von Vanille. Frรผher hatte man aus den Blรผtenblรคttern Rosenรถl gekocht. Heute diente der Strauch nur noch als Touristenattraktion.

Ein hoher Pfeifton weckte ihn. Johan Hartung richtete sich in seinem Bett auf und suchte nach der Quelle des Stรถrgerรคusches. Erst nach einiger Zeit ging ihm auf, daรŸ der Lรคrm nur in seinem Kopf stattfand. Dieser verfluchte Tinnitus! Gegen besseres Wissen hielt er sich die Ohren zu und sah sich um.

Er befand sich in einem nicht allzu hohen Raum, der geschmackvoll tapeziert war. Wilde Rosen rankten die Wรคnde empor, so gut gezeichnet, daรŸ sie beinahe dreidimensional wirkten. Die kleinen, vergitterten Fenster unter der Decke lieรŸen auf Keller oder Souterrain schlieรŸen. DrauรŸen schien die Sonne und schickte ihre Lichtfinger bis auf den FuรŸboden vor seinem Bett.

Wo war er hier. Das letzte, an das er sich erinnerte, war der Empfang, auf den man ihn eingeladen hatte. Gutes und reichliches Essen. Die spรถttischen Augen einer Frau. Wie hieรŸ sie noch? Ah, Hanna! Ein Anruf. Natรผrlich Mama, die ihm Vorhaltungen machte. รœbelkeit. Er ging zu den Toiletten und dann? Schwรคrze. Jetzt war er hier aufgewacht.

Er schwang die Beine aus dem Bett und wollte zur Tรผr gehen, die sich in einigen Metern Entfernung an der gegenรผberliegenden Wand befand. Ein lautes Klirren und ein schmerzhafter Ruck an einem FuรŸgelenk und er fand sich auf dem FuรŸboden liegend wieder.

ยปVerflucht! Was โ€ฆยซ

Jetzt entdeckte er das FuรŸeisen, das um seinen Knรถchel lag und dessen Kette zu einem dicken Stahlring fรผhrte, der in die Wand eingelassen war. Mit einer Verwรผnschung, die einem Gangsta-Rapper alle Ehre gemacht hรคtte, richtete er sich wieder auf und stellte sich auf seine Beine, die sich รผberraschend wackelig anfรผhlten.

ยปHallo! Ist hier jemand? Hey! Hรถrt mich einer?ยซ

Er muรŸte nicht lange rufen. Gerรคusche hinter der Tรผr verrieten, daรŸ sich jemand nรคherte. Gespannt blickte er auf die sich รถffnenden Tรผrschlitz, aber die Person, die hindurch kam, kannte er nicht. War das ein Wachdienst?

ยปSie kรถnnen Alasdair sagen, daรŸ ich wieder wach bin und daรŸ es mir gut geht. Bitte machen Sie mich jetzt los.ยซ

ยปWer ist Alasdair?ยซ

ยปIst er nicht da? Wo bin ich dann? Warum bin ich hier?ยซ

ยปSie hatten einen kleinen Unfall und benรถtigten unsere Hilfe.ยซ Die Miene des schwarz gekleideten Herren lieรŸ keine Rรผckschlรผsse zu, wie er das meinte.

ยปSie kรถnnen mich jetzt wieder losmachen. Bitte! Ich bin wach und es geht mir gut.ยซ

ยปDas werde ich nicht tun.ยซ

ยปWarum nicht? Bin ich hier gefangen?ยซ

ยปSelbstverstรคndlich nicht. Sie benรถtigen einige Tage Ruhe und eine spezielle Therapie. Dann kรถnnen Sie wieder nach Hause.ยซ

ยปIch bin in einer Klinik? Wohin hat man mich gebracht? Dr. Heines oder Joseph Stift?ยซ

ยปZunรคchst mรผssen Sie etwas essen. Sie waren einige Tage bewuรŸtlos.ยซ

Der Mann, der seine Fragen ignorierte, verschwand kurz im Tรผrrahmen und kehrte dann mit einem Tablett zurรผck, auf dem je eine Flasche Wasser und Wein sowie zwei Glรคser und ein groรŸer Teller mit Abdeckhaube standen. Als er die Haube anhob, verbreitete sich der Duft von frisch gebratenem Fleisch im Zimmer und Johan Hartung erkannte, wie groรŸ sein Hunger war.

Die Tรผre seines Zimmers โ€“ oder besser seiner Zelle โ€“ schloรŸ sich und Johan nahm an dem Tisch Platz, auf den der Wachmann โ€“ oder was auch immer er war โ€“ das Tablett gestellt hatte. Seine Kette reichte genau bis hierhin. Gierig aรŸ er, was er auf dem Teller fand. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, ebenso wie der Pomerol. Seine Wรคrter wuรŸten zumindest zu leben. Nur das Wasser besaรŸ einen undefinierbaren Nachgeschmack.

Wie lange war er schon hier? Einige Tage hatte der Wachmann gesagt. Warum erinnerte er sich an nichts? Hatte man ihn mit dem Essen vergiftet, um ihn hierher zu verschleppen, wo immer das war? Seine Gedanken verwirrten sich und eine lรคhmende Mรผdigkeit ergriff Besitz von seinem Kรถrper. Er schaffte es gerade noch bis ins Bett zurรผck, ehe seine Beine nachgaben. Kraftlos lag er auf der Decke.
Das letzte, was er sah, ehe er wegdรคmmerte, war, daรŸ sich die Tรผr รถffnete und jemand hineinkam, der nach Pfleger aussah. Er schob einen Infusionsstรคnder vor sich her, an dem eine ganze Reihe Flaschen baumelten.

Johan Hartungs Wohnung war sicher teuer eingerichtet. Der etwas wahllosen Zusammenstellung der Mรถbel entnahm Torsten aber, daรŸ hier jemand noch nicht zu seinem Stil gefunden hatte. Er รถffnete alle Rรคume, um sich einen รœberblick zu verschaffen, und fand erwartungsgemรครŸ niemanden vor.

ยปGeben Sie mir ein paar Minutenยซ, sagte er zu dem Angestellten der Hausverwaltung, der ihn am Eingang der Anlage erwartet und hierher gefรผhrt hatte. ยปEs wird nicht lange dauern.ยซ

ยปIn Ordnung. Ich warte hier so lange.ยซ

Dann sah er sich genauer um. Die Plastikblumen auf den Fensterbรคnken hatte schon lรคnger niemand mehr abgestaubt. Die juristische Fachliteratur im Arbeitszimmer sah aus wie frisch gekauft, ebenso der protzige Gaming-Laptop auf dem Schreibtisch.

Torsten schaltete ihn ein. Beinahe ohne Zeitverzรถgerung erschien der Bildschirm mit der Pin-Abfrage.

Na, einige Versuche habe ich wohl frei.

Er tippte aufs Geratewohl ‘1234’ ein. Zu seiner grรถรŸten รœberraschung wurde er sofort auf den Desktop weitergeleitet.

Herrje, der VermiรŸte ist wohl ein schlichteres Gemรผt.

Mit wenigen Mausklicks verschaffte er sich einen รœberblick รผber die Laufwerke. Kopfschรผttelnd zog er anschlieรŸend sein Handy aus der Tasche und rief seinen Vorgesetzten an.

ยปHeld, Kriminalpolizei?ยซ

ยปIch bins, Peter. Ich bin gerade Hartungs Wohnung. Hier steht ein Laptop mit PaรŸwort ‘1234’ und unverschlรผsselten Laufwerken.ยซ

ยปNicht Dein Ernst?ยซ

ยปDoch. Meine Frage wรคre: Soll ich ihn mitnehmen, damit wir ihn nach Anhaltspunkten auf Hartungs Verbleib untersuchen kรถnnen? Wir haben schlieรŸlich keine Gefahr im Verzuge und er ist erst zwei Tage verschwunden.ยซ

ยปKeine Gefahr im Verzuge? Guter Witz. Ich habe gerade mit seiner Mutter gesprochen. Sie sagt, wir sollen Himmel und Hรถlle in Bewegung setzen. Bring alles mit, was uns irgendwie weiterhelfen kann. Sie hat bereits nach Deiner Nummer gefragt und will Deine Arbeiten beschleunigen.ยซ

ยปDann packe ich ihn ein und sehe mich nach Notizblรถcken et cetera um. Vielleicht hatte er an dem Abend noch eine Verabredung. Um den DurchsuchungsbeschluรŸ kรผmmerst Du Dich?ยซ

ยปBis Du zurรผck bist, hast Du ihn auf Deinem Tisch.ยซ

Torsten legte auf und sah sich weiter um, fand aber in der gesamten Wohnung weder Papier noch einen Stift. Im Schlafzimmer stand er kopfschรผttelnd vor einem groรŸen Haufen gebrauchter Unterwรคsche und sonstiger Kleidung, die wild durcheinandergeworfen waren.

Abschleppen wollte er in dieser Nacht definitiv niemanden. Zumindest nicht zu sich nach Hause.

Er durchsuchte die Taschen der Hosen nach Hinweisen. AuรŸer gebrauchten Taschentรผchern fand er aber nichts und war dabei froh, daรŸ er Handschuhe anhatte.

ยปDen Laptop muรŸ ich mitnehmenยซ, sagte er zu dem Hausmeister, der ihm die Wohnung aufgeschlossen hatte und reichte ihm seine Visitenkarte. ยปSchreiben Sie mir bitte eine Mail. Sie erhalten dann von mir einen Scan des Durchsuchungsbeschlusses, der gerade ausgestellt wird.ยซ

ยปDanke.ยซ Der Mann wirkte erleichtert.

ยปBekommen Sie oder Ihre Kollegen eigentlich mit, ob Herr Hartung Besuch empfรคngt, Freundinnen, Kommilitonen oder so?ยซ

ยปIch habe noch nie jemanden bei ihm gesehen. AuรŸer seiner Mutter natรผrlichยซ, setzte der Wachmann schnell hinzu. ยปDie kommt regelmรครŸig. Ansonsten lebt er wie ein Einsiedler.ยซ

ยปWรผrden Sie auch Ihre Kollegen fragen?ยซ

ยปSelbstverstรคndlich, Herr Kommissar.ยซ Der Mann nahm den Ausdruck von Hartungs PaรŸbild entgegen, das Torsten ihm gab und wandte sich dann zum Gehen.

ยปWissen Sie, ob Herr Hartung einen FestnetzanschluรŸ besitzt?ยซ, rief Torsten ihm hinterher.

ยปIch glaube nicht. Die Kabel liegen zwar, aber die Wohnanlage besitzt ein leistungsfรคhiges zentrales Wi-Fi, das alle Bewohner benutzen kรถnnen. Niemand macht sich die Mรผhe, noch etwas Eigenes anzumelden. Falls Sie mich nicht mehr brauchen, wรผrde ich jetzt gerne โ€ฆยซ

ยปGehen Sie schon. Ich finde allein hinaus.ยซ

ยปDanke, Herr Jรคger. Ziehen Sie einfach die Tรผr ins SchloรŸ, wenn Sie gehen.ยซ Der Hausmeister machte kehrt und entfernte sich.

Torsten nahm sein Smartphone und fotografierte Teile der Wohnung. Die Bilder wรผrden nรผtzlich sein, falls er ein Profil des Verschwundenen erstellen muรŸte. AnschlieรŸend stรถpselte er den Laptop aus und legte ihn zusammen mit seinem Zubehรถr in einen รผberdimensionalen blau-gelben Einkaufsbeutel, die er in der Kรผche neben diversen abgegessenen Tellern fand.

Als er mit den beschlagnahmten Gegenstรคnden die Wohnung verlassen wollte, prallte er im Eingang mit einer Dame zusammen, die gerade dabei war, die Tรผre von auรŸen aufzuschlieรŸen.

Bevor er sie genauer in Augenschein nehmen konnte, zog sie bereits ihr Telefon und hielt es ans Ohr.

ยปSieh an, ein Einbrecher. Habe ich Sie auf frischer Tat ertappt, wie es aussieht, was?ยซ Sie warf einen vielsagenden Blick auf seine Tasche, aus der eine Ecke der Tastatur herausragte. ยปDann wollen wir mal die Polizei rufen. Kommen Sie nicht auf den Gedanken, sich zu entfernen. Ich kann nรคmlich Karate!ยซ

ยปDas wird nicht nรถtig sein.ยซ Torsten zรผckte seinen Dienstausweis. ยปSie sind Herrn Hartungs Mutter, vermute ich?ยซ

ยปAh, dann sind Sie bestimmt ein Assistent von Hauptkommissar Held.ยซ Sein ยปNeinยซ und den Ausweis nicht zur Kenntnis nehmend, redete sie einfach weiter. ยปMan muรŸ nur hoch genug in der Hierarchie ansetzen, hat schon mein Mann, Gott habโ€™ ihn selig, immer gesagt. Sonst macht man den Leuten keine Beine โ€ฆยซ

Torsten setzte seine Tasche ab und nutzte die Zeit, in der sie weiterplauderte, um die Dame vor sich genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte die Sechzig bereits รผberschritten und trug ihr weiรŸes Haar straff nach hinten gekรคmmt und am Hinterkopf zu einem Dutt aufgetรผrmt. Wasserblaue Augen mit langen, kรผnstlichen Wimpern, die Helmut Kohl alle Ehre gemacht hรคtten und ein ausfรผhrliches Make-up verdeckten ihr Gesicht mehr, als daรŸ sie den Blick zum Rasten einluden. Strenge Falten um ihre Mundwinkel verrieten aber, daรŸ sie wohl nicht oft lachte und auch das graue Kostรผm mit den violetten Applikationen wirkte alles andere als heiter und beschwingt.

ยปโ€ฆ und fรผr das da haben Sie sicherlich einen Durchsuchungsbefehl dabei?ยซ, beendete sie ihre Ausfรผhrungen und wies auf den Inhalt der Tasche.

ยปMit Verlaub, dรผrfte ich bitte zunรคchst Ihren Ausweis sehen?ยซ

Torstens Tonfall war wohl etwas scharf geraten, denn die Dame zuckte zusammen, ehe sie ihn mehr รผberrascht als zornig anblickte.

ยปDas ist nicht Ihr Ernst? Jeder Mensch in dieser Stadt kennt mich!ยซ

ยปWir wurden uns noch nicht vorgestellt, also wenn ich bitten darf?ยซ

ยปHier.ยซ Sie zog ein Portemonnaie wie einen Colt aus ihrer echsenledernen Handtasche, klappte es auf und zรผckte ihre Ausweiskarte.

Torsten studierte sie kurz. ยปDanke, Frau Kassandra Hartungยซ, sagte er.

ยปHartung vom Donnerbach bitte. So viel Zeit muรŸ sein!ยซ

ยปWie Sie wรผnschen, Frau Hartung vom Donnerbach.ยซ Torsten muรŸte sich ein Lรคcheln verkneifen. ยปDer DurchsuchungsbeschluรŸ liegt รผbrigens auf meinem Schreibtisch im Prรคsidium. Es sah nicht so aus, als wรผrde er benรถtigt werden und der Hauptkommissar hat mir nahegelegt, mich mit meinen Ermittlungen mรถglichst zu beeilen. Wenn Sie wรผnschen, bringe ich die Sachen zurรผck in die Wohnung und gehe den BeschluรŸ holen. Dann wird heute aber vermutlich nicht mehr viel geschehen.ยซ

ยปSchon gut, schon gutยซ, antwortete sie fahrig. ยปWas erwarten Sie denn auf seinem Rechner zu finden? Ihnen ist sicherlich klar, daรŸ Sie nicht ohne weiteres Zugriff darauf nehmen kรถnnen. Mein Sohn ist immerhin studiert und ein absoluter IT-Profi.ยซ

ยปGlรผcklicherweise beschรคftigen wir ebenfalls IT-Profisยซ, erwiderte Torsten mit feinem Lรคcheln. ยปWir schaffen das schon.ยซ

ยปDann will ich Sie nicht weiter aufhalten.ยซ Sie machte Anstalten, an ihm vorbei in die Wohnung zu gehen.

ยปEinen Augenblick nochยซ, hielt Torsten sie auf. ยปWeswegen sind Sie eigentlich hier?ยซ

ยปIch bin seine Mutter. Ich brauche keinen Grund!ยซ, antwortete sie, um nach kurzem Zรถgern doch noch eine Erklรคrung hinzuzufรผgen: ยปIch hole seine Wรคsche. Diese Wรคscherei, in die er seine Sachen bringt, โ€ฆ sauber mag die Kleidung ja nach dem Waschen sein, aber vom Hemdenbรผgeln haben die keine Ahnung.ยซ

ยปViel SpaรŸ.ยซ Torsten dachte mit leisem Grausen an die schmutzigen Haufen in der Wohnung. ยปAber wo wir uns hier gerade so schรถn unterhalten, wรผrde es Ihnen etwas ausmachen, mir mit eigenen Worten zu berichten, was Sie dazu bewogen hat, nur wenige Stunden nach seinem Verschwinden Ihres Sohnes bereits eine VermiรŸtenanzeige zu erstatten?ยซ

ยปWeil ich seine Mutter bin und er unser gemeinsames Mittagessen am Sonntag noch nie hat ausfallen lassen!ยซ Sie runzelte dabei die Stirn, als hรคtte Torsten ihr einen unsittlichen Antrag gemacht.

ยปDie Mรถglichkeit, daรŸ er seinen Rausch ausgeschlafen hat oder vielleicht fรผr einige Tage weggefahren ist, haben Sie nicht in Betracht gezogen?ยซ

ยปHaben Sie Kinder?ยซ, entgegnete sie scharf, wartete seine Antwort aber nicht ab. ยปEine Mutter spรผrt es, wenn ihr Kind sie braucht. Er hat sich bereits bei unserem Telefonat am Vorabend seltsam verhalten.ยซ

ยปWarum seltsam? Davon stand nichts in Ihrer Aussage.ยซ

ยปWeil Ihre Schreibkraft mir nicht richtig zugehรถrt hat, deshalb.ยซ

ยปIch entschuldige mich fรผr diese Nachlรคssigkeit. Wรผrden Sie es mir bitte noch einmal erzรคhlen, damit ich es Ihrer Aussage hinzufรผgen kann?ยซ Torsten war sich noch nicht sicher, ob er das Gesprรคch amรผsant finden sollte, oder anstrengend.

ยปEr hat sich nicht gemeldet. Er ruft mich sonst immer Punkt Zweiundzwanzig Uhr an, bevor er zu Bett geht. Daraufhin habe ich ihn angerufen.ยซ

ยปErinnern Sie sich, zu welcher Uhrzeit das war?ยซ

ยปZweiundzwanzig Uhr Fรผnf.ยซ

Okay, ich glaube, das Gesprรคch wird anstrengend.

ยปHat er sich gemeldet?ยซ

ยปNicht sofort. Er schien abgelenkt zu sein. Das kenne ich von ihm nicht, wenn wir telefonieren. Er war auf einem Empfang bei der Familie von Hagestolz. Ich fand das verwunderlich.ยซ

ยปWie ist er an diese Einladung gekommen?ยซ

ยปDas ist ja das Seltsame. Normalerweise kรผmmere ich mich um solche Angelegenheiten, aber ich wuรŸte davon nichts. Juckelchen โ€ฆ รคhm โ€ฆ mein Sohn dachte auch, daรŸ ich die Einladung organisiert habe, aber diesmal war ich es nicht. Die Familie von Hagestolz wรคhlt sich sehr genau aus, wenn sie zu sich einladen und ich stehe leider nicht auf Ihrer Liste.ยซ

ยปEine Person Ihres Ranges? Wie konnte das passieren?ยซ Torsten muรŸte sich ein Grinsen verbeiรŸen.

ยปMir ist das auch ein Rรคtsel. Seit mein Mann verstorben ist, riรŸ der Kontakt urplรถtzlich ab. Ich habe Alasdair zuletzt auf Dieters Begrรคbnis gesehen und was soll ich Ihnen sagen, er hat mir nicht einmal mehr kondoliert! Wie finden Sie das?ยซ

ยปWas fรผr ein unhรถflicher Mensch!ยซ

Im nรคchsten Augenblick hoffte Torsten, daรŸ seiner Gegenรผber das Zucken um seine Mundwinkel entgangen war.

ยปJa, nicht? Ich habe wieder und wieder versucht, den Kontakt herzustellen, aber nicht eine einzige Antwort erhalten. Immerhin ist er โ€ฆ aber das geht Sie nichts an. Deswegen war ich ja so verblรผfft, daรŸ Juckel โ€ฆ mein Sohn eingeladen wurde.ยซ

ยปDas kommt mir auch seltsam vor. Und er hat Ihnen nichts davon erzรคhlt?ยซ

ยปNicht das Geringste. Dabei berichtet er sonst immer alles, das ihn bewegt. Ich hรคtte wenigstens erwartet, daรŸ er mich mitnimmt. Stattdessen hat er mich aus der Leitung komplimentiert, weil er eine Dame zum Tanz auffordern wollte.ยซ

Vielleicht hat er es ja deswegen nicht erzรคhlt.

ยปIst das ungewรถhnlich fรผr ihn?ยซ

ยปSogar sehr. Er trรคgt mich ansonsten auf Hรคnden! Besonders seltsam fand ich รผbrigens, daรŸ er sagte, daรŸ er in der kommenden Woche ein Treffen mit dem alten Alasdair hรคtte. Das hรคtte er mir doch vorher erzรคhlen kรถnnen!ยซ
ยปDas finde ich ebenfalls sehr ungewรถhnlich.ยซ

Torsten vermutete nur, daรŸ sich seine Grรผnde von denen seiner Gesprรคchspartnerin unterschieden.

ยปAch, Sie sind ja so ein charmanter Mann und Sie wissen, wie man sich gegenรผber Hรถhergestellten verhรคlt. Wรคren Sie so freundlich, mir Ihre Telefonnummer zu geben, damit ich mich von Zeit zu Zeit รผber den Fortschritt Ihrer Nachforschungen informieren kann?ยซ

Torsten erstarrte innerlich. Das fehlte noch, daรŸ er dieser Dame jetzt mehrmals tรคglich Bericht zu erstatten hatte!

ยปDas wรคre aber nicht angemessen, Frau Hartung vom Donnerbachยซ, antwortete er stockend. ยปIch stehe doch in der Rangfolge viel zu weit unten. Der Hauptkommissar gibt Ihnen sicher jede Auskunft, die Sie haben wollen.ยซ

ยปSo habe ich das noch gar nicht bedacht. Sie haben vรถllig recht!ยซ

Mit diesen Worten betrat sie die Wohnung Ihres Sohnes und schlug die Tรผre hinter sich zu, ohne sich zu verabschieden.

Torsten lรคchelte und war froh, diese Kuh so einfach vom Eis bekommen zu haben. Derzeit warf diese Untersuchung noch mehr Fragen auf als sie beantwortete. Tief in Gedanken verlieรŸ er das Gebรคude und betrat den Innenbereich. Der lag inmitten dreier Wohngebรคude und bestand รผberwiegend aus einer kurz gemรคhten Rasenflรคche, die von einem gepflasterten Weg umrahmt wurde.

Mitten auf der Wiese stand ein Hund, der Torstens Bewegungen interessiert verfolgte. Sein schwarz-weiรŸ geflecktes Fell und die lรคngliche Kรถrperform erinnerten Torsten an eine Reportage รผber Hรผtehunde, die er kรผrzlich gesehen hatte. Als er spontan einige Schritte auf ihn zuging, setzte sich der Vierbeiner und blickte ihn dabei unverwandt an.

Torsten nรคherte sich bis auf einige Meter. Der Hund beobachtete ihn wachsam aus blauen Augen, wie Torsten wahrzunehmen meinte, und begann, vorsichtig mit seiner Schwanzspitze zu wedeln. Dann sprang er auf, lief davon und verschwand in einem Hauseingang.

Lรคchelnd ging Torsten zurรผck zu seinem Wagen. Er mochte Hunde, auch wenn ihm klar war, daรŸ ihm in seiner derzeitigen beruflichen Situation nicht genรผgend Zeit fรผr einen vierbeinigen Hausgenossen blieb. Er drรผckte auf eine Taste des Schlรผssels, es klickte, er stieg ein und fuhr zurรผck ins Prรคsidium.

Den restlichen Tag verbrachte er in seinem Bรผro am Rechner. Er scannte den DurchsuchungsbeschluรŸ, den er tatsรคchlich absprachegemรครŸ auf seinem Schreibtisch vorfand, und leitete ihn an die Hausverwaltung von Hartungs Wohnanlage weiter.

Die neue Ordnung, die Max Waldgรคnger in seine Unterlagen gebracht hatte, gefiel ihm zunehmend gut. Sein Helfer hatte die digitale Kopie seiner Unterlagen so sortiert, daรŸ er alles beinahe auf Anhieb fand, etwas an dem sein wirklicher Assistent Moritz immer klรคglich gescheitert war, wenn er es denn einmal versuchte.

Woher zur Hรถlle weiรŸ dieser Junge so genau, wie ich geistig sortiert bin? Er kann das doch nicht in mir gelesen haben.

Ganz ernst meinte er diesen Gedanken nicht, aber jene Ermittlung im vergangenen Jahr geisterte immer noch durch seine Gedanken. Da niemand eine rationale Erklรคrung fรผr die Ereignisse geben konnte, die zum Tod von dreiundfรผnfzig Menschen gefรผhrt hatten, blieb fรผr Torsten nur die unbefriedigende Erklรคrung, daรŸ Paolo Costa mรถglicherweise wirklich paranormale Fรคhigkeiten besessen hatte.

Das konnte man in keinen Bericht schreiben, ohne das Risiko einzugehen, hinterher wieder Streife laufen zu mรผssen und natรผrlich hatte er das auch nicht getan. Er war seitdem aber offener geworden, und wenn sich Dinge nicht anders erklรคren lieรŸen, bemรผhte er sich, seinen Geist frei von vorgefaรŸten Meinungen zu halten.

Besonders lange studierte er am Ende den Top Secret Ordner. Was, wenn an Maxโ€™ รœberlegungen doch etwas dran war? Nur um diese Mรถglichkeit auszuschlieรŸen, sollte er sich bei der รถrtlichen Tageszeitung einmal umsehen.

Und wenn etwas dran ist, was mache ich dann?

Aber die Wahrscheinlichkeit war groรŸ, daรŸ er sich damit nicht befassen muรŸte. Bestimmt tauchte Johan Hartung in den nรคchsten Tagen wieder wohlbehalten auf und prรคsentierte ihnen eine plausible Erklรคrung fรผr alles. Glรผcklicherweise geschah es nur selten, daรŸ eine vermiรŸte Person fรผr alle Zeit verschwunden blieb.

Ich brauche einen Assistenten, verdammt noch mal! Ich kann nicht auf Dauer alles selbst erledigen. Peter hat leider recht. Ich werde ihn morgen fragen, ob er mir einen seiner eigenen Assistenten, am besten Klaus, fรผr eine Weile รผberlรครŸt.

Er schrieb eine Mail an den Caterer, der am vergangenen Wochenende den Empfang im Hause von Hagestolz verkรถstigt hatte, und bat darum, die an jenem Abend anwesenden Mitarbeiter kurzfristig fรผr eine Befragung zur Verfรผgung zu halten. Danach fรผhrte er ein Telefonat mit der Tageszeitung und vereinbarte einen Termin mit der Leiterin des Archivs. AnschlieรŸend legte er das Telefon aber nicht weg, sondern holte einige Male tief Luft und wรคhlte eine weitere Nummer.

Nach einer Weile wurde abgenommen und eine weibliche Stimme meldete sich.

ยปHagestolz-Bรถhm?ยซ

ยปJรคger, Kriminalpolizei.ยซ

ยปSie? Ich dachte, wir hรคtten Ihnen klargemacht, daรŸ Ihre Anwesenheit in unserem Hause nicht erwรผnscht ist.ยซ

ยปDas muรŸ mir entgangen sein. Ich melde mich diesmal aber vorher an, denn ich muรŸ Sie mit ein oder zwei Leuten besuchen, um Ihre Angestellten zu befragen.ยซ

ยปDaรŸ Sie sich anmelden, ist rรผcksichtsvoll von Ihnen. Heute geht es aber auf keinen Fall mehr. Herr von Hagestolz befindet sich in einer โ€ฆ medizinischen Behandlung, die auf keinen Fall unterbrochen werden darf. Danach geht er immer zu Bett.ยซ

ยปIch verstehe. Wie wรคre es mit morgen?ยซ

ยปFรผnfzehn Uhr wรผrde uns passen. Bis dahin kann ich auch alles Personal einbestellen, das am Sonnabend Dienst hatte. Hoffentlich kรถnnen Sie die Befragung kurz halten. Wir sind derlei Stรถrungen nicht gewohnt.ยซ

ยปFรผnfzehn Uhr also. Ich kann Ihnen versichern, daรŸ auch ich nicht das Bedรผrfnis verspรผre, mich bei Ihnen lรคnger als nรถtig aufzuhalten.ยซ

Torsten drรผckte fahrig die rote Taste. Glรผcklicherweise wurden auch bei ihnen vor einigen Monaten die Tischtelefone durch zeitgemรครŸere schnurlose Exemplare ersetzt, sonst hรคtte er wohl den Hรถrer aufgeknallt.

AnschlieรŸend beendete er seine Arbeit fรผr den Tag und verlieรŸ das Prรคsidium. Den Dienstwagen lieรŸ er stehen und stieg stattdessen auf sein Rad. Zwar war die Jahreszeit bereits fortgeschritten, aber der warme Fahrtwind und die Bรคume, die noch voll im Laub standen, wirkten eher, als wรคre es noch Hochsommer.

Er fuhr seine Lieblingsstrecke. Sie war zwar ein wenig lรคnger, fรผhrte dafรผr aber durch eine Reihe von Grรผnanlagen auf den FluรŸ zu, dem er anschlieรŸend den Osterdeich entlang folgte.

Auf der Weserbrรผcke hielt er an, lehnte sich an das Gelรคnder, schloรŸ die Augen und badete sein Gesicht in den Strahlen der Sonne, die bereits tief รผber dem Hรคuserriegel des Teerhofs stand. Dabei lieรŸ er den Tag Revue passieren.

Hatte er sich gegenรผber Max korrekt verhalten? Definitiv ja, denn er erfรผllte die formalen Anforderungen an einen Assistenten nicht. Wobei, falls das wirklich nur der mangelnden kรถrperlichen FitneรŸ geschuldet war, sollte er das vielleicht nicht zu hoch hรคngen. Auch er selbst hatte den Sporttest seinerzeit nur um Haaresbreite bestanden. An Auffassungsgabe schien es Max jedenfalls nicht zu mangeln. Karriere wรผrde er wohl nicht machen, aber als Assistent war er mehr als brauchbar gewesen.

Vor allem hat er mich auf andere Gedanken gebracht. Ich habe zwei Tage lang nicht an Vรกclav gedacht und konzentriert gearbeitet. Ist das nicht mehr wert als ein Stรผck Papier, auf dem ‘bestanden’ steht?

Weserbrรผcke Bremen
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Das Licht der tiefstehenden Sonne wandelte sich von Gelb รผber Golden zu einem satten Orange. Nasse Rรคnder auf der Felsenbรถschung unter ihm zeugten davon, daรŸ die Flut mittlerweile ihren Hรถhepunkt รผberschritten hatte.

Torsten lieรŸ es geschehen und genoรŸ diese Zeit der inneren Ruhe, wรคhrend hinter ihm FuรŸgรคnger, Radler und Autos die alte Brรผcke passierten.

Eine Mรถwe lauerte รผber ihm in der Luft auf unaufmerksame Touristen, die fรผr einen Moment nicht auf ihr Essen achtgaben.

Erst als ein kรผhler Windhauch รผber seinen aufgeheizten Kรถrper blies, verlieรŸ er seinen Gedankenpalast und stieg wieder auf. Wรคhrend er durch die Neustadt radelte, verfestigte sich in ihm das Gefรผhl, daรŸ da noch etwas war, das er Max hatte fragen wollen, etwas Wichtiges sogar. Beinahe hatte er die Frage schon gefunden, aber als er sich zu stark auf sie konzentrierte, verflรผssigte sie sich wie Butter in der Sonne und rann ihm durch die Finger.

Er hatte wohl etwas lange auf der Brรผcke gerastet, denn es dรคmmerte bereits, als er die kleine Parkanlage hinter der Oberschule passierte. Die StraรŸenbeleuchtung hatte sich noch nicht eingeschaltet und so nahm er die kleine Menschenansammlung unter den Bรคumen am Rande des eingezรคunten Basketballspielfelds nur grob im Vorbeifahren wahr.

Vier junge Mรคnner standen um einen fรผnften herum. Etwas in der Kรถrpersprache der Personen erregte aber seine Aufmerksamkeit. Hatte da jemand drohend den Arm gehoben und die Hand zur Faust geballt? Vielleicht sollte er sich das nรคher ansehen.

Er hielt an, lehnte sein Rad an einen Baum und schlenderte wie ein Spaziergรคnger in die Richtung, in der er die Gruppe wahrgenommen hatte. Schon nach wenigen Metern kamen sie hinter einigen Bรผschen in Sicht.

ยปKein Handy, sagst Du?ยซ, rief einer der Mรคnner. ยปHabt ihr gehรถrt, der Waldi hat kein Handy? Ooh, wie traurig! Und das sollen wir Dir glauben?ยซ

ยปHier, schaut doch selbst, meine Taschen sind leer.ยซ

Diese Stimme kenne ich!

ยปWas meint ihr, wollen wir das dem Waldi abkaufen? Du muรŸt uns bezahlen, wenn Du hier in einem Stรผck wegkommen willst. Hast Du das verstanden?ยซ

ยปAber ich habe auch kein Geld. Das wiรŸt ihr doch.ยซ

ยปDu muรŸt uns bezahlen. Was meint ihr, wie soll er uns bezahlen, wenn er kein Geld dabei hat?ยซ

ยปMeine Sneakers sind ziemlich eingesautยซ, sagte eine andere Stimme. ยปLos, Waldi, leck sie sauber!ยซ

ยปMeine auchยซ, sagte ein Dritter. ยปLos, auf die Knie mit Dir!ยซ

ยปNee, auf alle Viere gehรถrt unser Waldi.ยซ Das war die erste Stimme, anscheinend der Anfรผhrer. ยปNa komm, sei ein braver Hund. Oder mรผssen wir Dich zwingen?ยซ

ยปIhr kรถnnt mich nicht zwingen!ยซ

ยปAch was, wird unser Waldi widerborstig? Los, runter โ€ฆ AUTSCH! Er hat mich gebissen!ยซ

In diesem Augenblick strich ein leichter Wind von der Gruppe herรผber zu ihm und kitzelte seine Nase. Fรผr einen Augenblick roch es ein wenig nach Zitrone.

Und nach nassem Hund!

ยปDarf ich fragen, was das hier wird?ยซ Mit wenigen Schritten hatte Torsten die kurze Distanz รผberbrรผckt und zรผckte seine Dienstmarke.

ยปScheiรŸe, ein Bulle, haut ab!ยซ

Die Vier stoben auseinander. Drei von ihnen verschwanden im Nu von der Bildflรคche. Den Vierten hatte Torsten an seiner Jacke zu fassen bekommen.

ยปEy, isch hab nix getan! LaรŸ misch gehn!ยซ

Max, der sich bereits auf den Knien befand, blickte รผberrascht auf seinen Retter, sagte aber nichts.

ยปIhren Ausweis bitte!ยซ

Der junge Mann, den Torsten am Schlafittchen gepackt hatte, zuckte unter seinem Kommandoton zusammen und zog das Gewรผnschte aus einer Jackentasche.

ยปDann wollen wir mal sehen.ยซ Torsten lieรŸ ihn los und ging mit dem Ausweis einige Schritte zur nรคchsten Laterne. Dort fotografierte er ihn mit seinem Smartphone, ehe er ihn zurรผckreichte. ยปOkay, Tayfun Yฤฑldฤฑrฤฑm, das war ja eine wahnsinnig mutige Aktion, vier Leute gegen einen. Sie sollten sich jetzt bei Ihrem Opfer entschuldigen.ยซ

ยปAber ich โ€ฆยซ

ยปDas war kein Vorschlagยซ, unterbrach ihn Torsten rรผde. ยปUnd ich rate Ihnen: meinen Sie es ernst! Dann verzichtet dieser Herr vielleicht auf eine Anzeige wegen Nรถtigung und Raub, fรผr die Sie und Ihre tapferen Freunde sonst eine Weile in den Bau gehen.ยซ

Der Angesprochene schwieg eine Weile. Erst als Torsten sein Telefon erneut zog und eine Streife herbeirufen wollte, hรถrten sie ein leises ยปEy, es tut mir leid. War nicht so gemeint. Kommt nicht wieder vor.ยซ

ยปGenรผgt Ihnen das als Entschuldigung?ยซ, fragte Torsten Max in offiziellem Tonfall.

ยปSicherยซ, antwortete der ebenfalls leise.

ยปOkay, dann kรถnnen Sie jetzt gehen. Und falls Sie diesem Herrn noch einmal begegnen, grรผรŸen Sie ihn freundlich. Ich weiรŸ jetzt, wo Sie wohnen!ยซ

Torsten gab dem Jugendlichen, den er aufgegriffen hatte, mit dieser Drohung seinen Ausweis zurรผck. Der steckte ihn ein und spurtete dann los in die Dรคmmerung.

ยปKomm mit, Max. Wir mรผssen reden.ยซ Torsten steckte das Handy ein und ging zurรผck in Richtung seines Rades.

Der Angesprochene rappelte sich auf und trottete hinterher.

ยปAls erstes: Bist Du verletzt?ยซ, fragte Torsten, wรคhrend er sein Rad weiterschob.

ยปNur in meinem Stolzยซ, kam die Antwort, ยปaber das heilt wieder.ยซ

ยปWer waren diese Leute?ยซ

ยปEhemalige Mitschรผler. Sie haben mich frรผher schon manchmal abgezogen. Ich habe vorhin nicht aufgepaรŸt und mich von ihnen รผberrumpeln lassen.ยซ

ยปWaldi, so, so. Das ist kein schรถner Spitzname.ยซ

ยปIch habe ihn mir nicht ausgesucht.ยซ

Es war mittlerweile zu dunkel, um erkennen zu kรถnnen, ob Max dabei errรถtete. Schweigend gingen sie weiter.

ยปDanke Torstenยซ, sagte der Gerettete dann. ยปDu hรคttest ja einfach weiterfahren kรถnnen. Hattest Du mich erkannt?ยซ

ยปNicht gleich. Es war nur eine Ahnung.ยซ

ยปDeswegen bist Du wohl Kommissar und ich nur Botenjunge.ยซ

Den traurigen Tonfall, in dem er das sagte, konnte Torsten nicht miรŸverstehen.

ยปDenk Dir nichts dabeiยซ, sagte er lahm. Die Dinge waren, wie sie eben waren.

ยปHoffentlich findest Du bald einen Assistenten.ยซ

ยปMach Dir darum keine Gedankenยซ, sagte Torsten. Im selben Moment fiel ihm auf, daรŸ das schroffer als beabsichtigt klang und er bemรผhte sich um einen freundlicheren Tonfall. ยปWas machst Du heute noch?ยซ

Er sah im Licht einer StraรŸenlaterne, die sich gerade eingeschaltet hatte, wie Max mehrmals schnell und tief Luft holte. Beinahe sah es aus, als ob er hechelte.

ยปHast Du Lust, Essen zu gehen?ยซ, sagte er dann so leise, daรŸ Torsten es erst nach einer Gedenksekunde verstand. ยปIch lade Dich ein.ยซ

Er fรผhlt sich mir gegenรผber verpflichtet, weil ich ihn da rausgehauen habe. Ich muรŸ professionell bleiben, sonst mache ich mich angreifbar!

ยปKlar, warum nicht?ยซ, antwortete er.

Wenn ich mitgehe, muรŸ er sich mir gegenรผber nicht mehr schuldig fรผhlen. Professionell sein kann ich spรคter immer noch.

ยปDa vorne links ist ein Grieche in der StraรŸe. Ist das okay?ยซ

ยปIch mag griechischยซ, antwortete Torsten.

Und es ist preiswert!

Sie bogen gerade in die StraรŸe ab, da leuchtete es ihnen schon blau-weiรŸ an der nรคchsten Ecke entgegen. Torsten kettete sein Rad an einen Laternenpfahl. AnschlieรŸend betraten sie das Restaurant.

Max war hier offensichtlich Stammgast, denn er wurde vom Tresen aus gleich mit Handzeichen gegrรผรŸt. Einer der Kellner kam auf ihn zu, umarmte ihn und kรผรŸte ihn auf beide Wangen. Das schien ihn nicht zu รผberraschen, auch wenn er die Zรคrtlichkeit mehr erduldete als genoรŸ.

Auch Torsten bekam einen Handschlag. Ihr Gegenรผber erhielt vom Tresen aus einen Wink, nickte und fรผhrte sie zu einem freien Zweiertisch im hinteren Bereich.

ยปMehr haben wir nicht. Ist voll heuteยซ, sagte der Kellner entschuldigend, reichte die Karten und wandte sich dann an Max:

ยปEinmal wie immer?ยซ

ยปJepp, die รœberraschungsplatte bitte.ยซ

ยปDie nehme ich auchยซ, sagte Torsten.

Die Brauen des Kellners zogen sich nach oben und Torsten fรผhlte sich unter seinem prรผfenden Blick kurz wie ein Lamm auf der Schlachtbank.

ยปSind Sie sicher?ยซ, fragte er dann. ยปWollen Sie nicht erst in die Karte schauen?ยซ

Torsten folgte dem Rat und erschrak, als er sah, daรŸ Max die grรถรŸte Zweipersonenplatte fรผr sich bestellt hatte. Er suchte sich dann doch einen kleineren Grillteller aus und bestellte lieber einen groรŸen Salat dazu.

ยปDu scheinst รถfter hier zu seinยซ, versuchte er danach ein Gesprรคch in Gang zu bringen.

ยปIch mag griechisches Essen. Hier gibt es immer genรผgend Fleisch.ยซ Max guckte begehrlich auf die Nachbartische, wo die Gรคste bereits aรŸen.

ยปDu machst mir Angst.ยซ

ยปEs ist wirklich nur mein Stoffwechsel.ยซ

Das sollte wohl beruhigend klingen. Als Torsten dann sah, welche Mengen an Essen der Kellner ihnen nach dem BegrรผรŸungsouzo heranschleppte, blieb ihm vor รœberraschung der Mund offen stehen. Seine eigene Portion erschien ihm bereits so groรŸ, daรŸ er bezweifelte, alles aufessen zu kรถnnen. Die Berge an Fleisch vor seinem Gegenรผber hรคtten ihm aber bis zur Brust gereicht, wรคre Max nicht so hochgewachsen gewesen.

ยปDein Magen muรŸ ein anatomisches Wunder seinยซ, sagte er nur staunend.

ยปWie gesagt: das ist nur schneller Stoffwechsel. Denk Dir bitte nichts dabei.ยซ

ยปGibt es auch einen Namen fรผr das Syndrom?ยซ

Max war bereits mit Essen beschรคftigt und blieb ihm die Antwort schuldig.

Torsten konzentrierte sich in den nรคchsten Minuten auf seinen eigenen Teller. Der Salat war frisch und appetitlich angerichtet und das Fleisch auf den Punkt gegart. Komisch, daรŸ er dieses Restaurant noch nie besucht hatte, obwohl auch er nur wenige StraรŸen weiter wohnte. Ach ja, Vรกclav mochte kein Griechisch und allein machte Essengehen keinen SpaรŸ.

Der Gedanke an seinen Exfreund schmerzte nicht mehr so sehr wie sonst. Vielleicht hieรŸ das, daรŸ er bald รผber die Sache hinwegkam.

Der Kellner brachte ihnen eine dritte Flasche Wasser. Nachdenklich betrachtete Torsten die beiden leeren Flaschen, die vor ihnen auf dem Tisch standen. Als die Bedienung sie abrรคumte, stieรŸen sie mit einem leisen Klirren gegeneinander.

Zwei Flaschen โ€ฆ

Zwei โ€ฆ

ZWEI!

ยปJetzt weiรŸ ich, was ich Dich fragen wollte!ยซ, rief Torsten.

ยปMich fragen?ยซ Max hatte seine Platte in Rekordtempo in sich hineingeschaufelt und blickte lรผstern auf die beiden Lammkoteletts, die Torsten noch nicht gegessen hatte.

ยปDu hast mir gesagt, es gรคbe zwei Personen, die in der Lage wรคren, diesen Fall zu lรถsen.ยซ

ยปIรŸt Du das da noch?ยซ

ยปNa los, nimm schon. Wer ist die zweite Person?ยซ

ยปDanke.ยซ Max gabelte sich geschickt die beiden Fleischstรผckchen und legte sie auf seinen Teller. ยปDie zweite Person ist Oberkommissar Aaron WeiรŸhaupt.ยซ

ยปWas zur Hรถlle โ€ฆ Wie kommst Du gerade auf den?ยซ

ยปWir kommen rum im Botendienst, und ich habe รผberall zugehรถrt. WeiรŸhaupt und Du, ihr habt eines gemeinsam.ยซ Max knabberte bereits am Knochen des zweiten Koteletts herum.

ยปDa bin ich aber gespannt. Hoffentlich ist es nicht das, was ich denke.ยซ

ยปDu meinst, daรŸ ihr beide schwul seid? Darรผber wird zwar auch getratscht, aber das spielt fรผr den Dienst keine Rolle.ยซ

ยปDa bin ich aber beruhigt.ยซ Torsten bemรผhte sich, nicht allzu sarkastisch zu klingen. ยปWas ist es dann?ยซ

ยปIhr habt Dinge erlebt, die sich mit Logik, Wissenschaft und gesundem Menschenverstand nicht erklรคren lassen. Das hat euch offener gemacht. Ihr beide tut Fakten nicht gleich ab, nur weil sie nicht ins Bild passen.ยซ

ยปFakten wie diese Ereignisse, die sich alle vierzig Jahre wiederholen, meinst Du?ยซ

Sein Gegenรผber schwieg und blickte in sein Wasserglas.

ยปDamit ich das richtig verstehe. Du sagst also, daรŸ dieser verschwundene Partygรคnger sich zu einem Fall entwickeln wird.ยซ

ยปIch bin mir sicher.ยซ

ยปWarum?ยซ

Max schwieg und trank sein Glas so langsam leer, daรŸ Torsten Sorge bekam, er wรผrde sich an seinem Inhalt verschlucken.

ยปIch werde mal zahlenยซ, sagte er dann.

ยปNochmals danke fรผr die Einladungยซ, sagte Torsten, ยปaber ohne meine Frage zu beantworten, kommst Du hier nicht weg.ยซ

ยปUnd wenn es keine Antwort gibt?ยซ

ยปDu meinst, Du weiรŸt Dinge einfach? Dir ist klar, wie sich das anhรถrt.ยซ

Max schwieg eine ganze Weile. Dann winkte er ihrem Kellner und vollfรผhrte dabei mit der Hand die ‘Unterschreiben’-Geste. Der kam kurz darauf mit einem Teller, auf dem die Rechnung lag und zwei weiteren Ouzos.

ยปZum Wohl!ยซ

ยปZum Wohl.ยซ

Beide stieรŸen die Schnapsglรคser aneinander und leerten sie in einem Zug. Max legte einige Scheine auf den Teller und stand dann abrupt auf.

ยปLaรŸ uns gehen.ยซ

ยปEs ist geschehenยซ, sagte Max drauรŸen, ยปund es wird wieder geschehen.ยซ

ยปDas schlieรŸt Du aus einer Handvoll Zeitungsausschnitte, die Du auf einem Dachboden gefunden hast.ยซ

Sie standen unter einer Laterne und sahen sich in die Augen. Maxโ€™ Iris wirkte bei diesem Licht nicht mehr blau, sondern beinahe schwarz.

ยปLaรŸ uns das ein anderes Mal klรคrenยซ, bat er plรถtzlich. ยปEs ist spรคt und โ€ฆ Ich habe gleich noch eine Verabredung.ยซ Er streckte Torsten die Hand entgegen.

ยปViel SpaรŸ.ยซ

Der Hรคndedruck war รผberraschend krรคftig und schon entfernte der junge Mann sich. Er schien es plรถtzlich eilig zu haben und kurz bevor er aus Torstens Blickfeld entschwand, begann er sogar zu laufen.

Torsten sah ihm nachdenklich hinterher. Offensichtlich erwartete Max von ihm, daรŸ er den Zusammenhang, den er da konstruiert hatte, einfach glaubte.
So arbeiten wir nicht. Das ist das Erste, was er lernen muรŸ.

Torsten drehte sich um, schloรŸ sein Rad auf, setzte sich auf den Sattel und fuhr in Richtung seiner eigenen StraรŸe.

Hoffentlich wird der Besuch im Pressehaus keine Zeitverschwendung.


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