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Leseprobe aus »Das Universum im Tautropfen«
Kapitel 1. Leblanc (06.12.2015)
»Es ist absolut erstaunlich, wie jung Sie sind«, sagte sein Gegenüber. »Würde ich es nicht besser wissen, hätte ich Probleme zu glauben, dass Sie schon volljährig sind.«
»Ich bin Zweiunddreißig«, antwortete Leblanc. »Und es ist mir egal, ob Sie mir das glauben. Sie sind schließlich nicht hier, weil Sie einen Lustknaben suchen. Oder habe ich Ihr Angebot da falsch verstanden?«
Der Mann machte eine heftige Armbewegung, behielt aber die Fassung. »Werden Sie nicht frech, oder ich nehme Sie beim Wort.«
Mit einem »Schon gut. Meine Qualitäten befinden sich zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen«, überspielte Leblanc seine Unsicherheit.
»Das weiß ich. Meine Frage ist: Können Sie auch liefern, bevor die Wahlkämpfe für 2017 beginnen? Der ‘Boulevard Atlantique’ benötigt etwas Vorlauf, um die Daten auszuwerten.«
»Lassen Sie Ihre Leute schon mal die Auswertungen schreiben.«
Sein Verhandlungspartner wirkte nicht wie ein Sympathieträger, aber da konnte er mithalten. Soziale Interaktionen hatten dem eigenen Vorteil untergeordnet zu sein. Er konnte schon als Kind nicht den Sinn von Konzepten wie ‘Freundschaft’ oder gar ‘Liebe’ erfassen und verhielt sich in jeder Situation rein opportunistisch. Damit hatte er zwar alle seine selbst gesteckten Ziele erreicht, entwickelte sich aber zu einem sehr einsamen Menschen. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Leblanc tat eben, was getan werden mußte, um Leblanc auf seinem Weg voranzubringen. Ohne Rücksicht und ohne Skrupel.
»Die Auswertung meiner Daten wird einige Zeit in Anspruch nehmen«, fuhr er fort. »In einigen Monaten erhalten Sie die ersten Lieferungen und können damit beginnen, die Social Media in Frankreich nach den Vorstellungen Ihrer Auftraggeber zu beeinflussen. Der Front National wird begeistert sein.«
»Wie kommen Sie auf die Idee, der ‘Boulevard Atlantique’ würde Aufträge vom Front National entgegennehmen? Das ist eine absurde Unterstellung.«
Die Entgegnung kam ein wenig zu schnell und scharf, wie ein oft einstudierter Reflex.
»Wie Sie meinen. Das spielt auch keine Rolle, solange Ihre Bezahlung stimmt.«
»Sie werden zufrieden sein, wenn wir es sind.« Die Diktion des anderen klang monoton, so als hätte er als Kind an einem Sprachfehler gelitten, den er nur mit therapeutischer Hilfe bewältigen konnte. »Die besprochene Anzahlung wird Ihnen noch heute in Bitcoin zugehen. Hoffentlich sind Ihre Daten seriöser als diese neue ‘Währung’.«
»Sie werden finden, dass Ihre Investitionen bei mir gut angelegt sind. Niemand anderes besitzt Zugang zu solchen Daten und ist gewillt, diesen mit Ihnen zu teilen.«
»Ich darf aber im übrigen davon ausgehen, dass Sie dieses einmalige Angebot nur uns machen. Mein Auftraggeber liebt keine Überraschungen und neigt dann zu unüberlegten Reaktionen.«
»Ich verstehe. Diese fetten Kaufleute in den Chefetagen wissen gar nicht, auf was für einem Schatz sie sitzen.«
»Und sie werden es auch nie erfahren, wenn es nach uns geht. Wie ich sehe, haben wir uns verstanden. Noch etwas: sollte bei Ihren ‘Ausarbeitungen’ etwas schieflaufen, werden wir jede Verbindung zu Ihnen abstreiten.«
»Ich weiß mich schon meiner Haut zu wehren.« Leblanc lächelte kalt. Er hatte – und der andere wußte das – keine Hemmungen, anderen weh zu tun. Seelisch und körperlich. Hauptsache, es brachte ihn selbst voran.
»Ihr Ruf ist Ihnen bereits vorausgeeilt.«
»Dann sind wir uns einig?«
»Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit mit der ersten Lieferung. Der ‘Boulevard Atlantique’ wartet nicht gerne.« Der Mann zahlte seine Schokolade mit behandschuhten Händen und verschwand wortlos aus dem kleinen Bistro in der Seitenstraße. Leblanc tat dasselbe. Er zog aus seiner Tasche einen Streifen Kaugummi, wickelte ihn aus, warf das Papier achtlos weg und schob ihn sich zwischen die schmalen Lippen. Dann schlenderte er kauend die Champs-Élysées in entgegengesetzter Richtung hinunter und lächelte dabei, als hätte er sich soeben mit einem guten Freund getroffen.
Kapitel 2. CERN (03.05.2016)
Doktor Jürg Sellmann hatte heute das Gefühl, außerhalb seines Körpers zu stehen. Eine seltsame Spannung lag in der Luft, wie er sie seit seinem Arbeitsantritt vor acht Jahren noch nicht erlebt hatte. Dabei lief doch alles nach Plan.
Vielleicht kam dieses komische Gefühl daher, dass er in der vergangenen Nacht so furchtbar geträumt hatte. Er befand sich im ATLAS Detektor des LHC. Es war furchtbar heiß. Der riesige Zylinder der Detektorkammer pulsierte hypnotisch im Rhythmus der Maschinen. Er betrachtete fasziniert dieses Pulsieren, das ihm vorher noch nie aufgefallen war. Die Luft um die Kammer herum flirrte vor Hitze und die Oberfläche der Detektorkammer spiegelte wie eine Landstraße in der Mittagssonne.
Das Pulsieren wurde stärker und stärker. Fast, als wäre die Kammer ein Lebewesen. Dann wurde sie plötzlich durchscheinend in der Hitze. Er konnte durch die massive Wand in ihr Inneres sehen. Dieses war leer, nicht von zahllosen Schichten von Kühlschlangen, Leitungen und Detektoren erfüllt, wie es eigentlich sein sollte. In der Mitte schwebte eine kleine, silberne Kugel, deren Oberfläche ebenfalls im Rhythmus des Ganzen mit pulsierte. Sie sah aus wie ein einziger, übergroßer Tropfen Quecksilber und schien wie von selbst zu wachsen.
Die Wände des Detektors verschwanden ganz und er befand sich allein in der Halle mit dieser metallisch glänzenden Flüssigkeit. Ihre Form veränderte sich, während das Pulsieren gleichzeitig immer langsamer wurde. Die Kugel wandelte sich zu einer furchterregenden Fratze. Sie verließ das ehemalige Zentrum der Kammer und schnappte nach ihm. Er wollte weglaufen, kam aber nicht von der Stelle. Die Umgebung um ihn herum fühlte sich an wie Treibsand. Die Fratze kam immer näher. Er schrie laut auf in Panik. Danach wachte er schweißgebadet auf.
Ein Albtraum. Das passierte einfach von Zeit zu Zeit. Er schälte sich aus den Decken und spürte, dass ihm der Schweiß in einer kleinen Pfütze auf der Brust stand. Nachdem er sich aus dem katatonischen Zustand gelöst hatte, in dem der Traum ihn zurückließ, sah er durch die Vorhänge, dass die Sonne schon aufgegangen war und beschloss aufzustehen. So traf er heute schon um sieben Uhr im Büro ein.
Das Protonen-Kollisions-Experiment lief seit über einer Woche genau im Rahmen seiner Parameter. Er selbst hatte sie mit berechnet. Tag für Tag pumpten sie Energie in das Synchrotron. Kollisionen von Atomkernen im Höchstenergiebereich erwiesen sich als Jungbrunnen für die physikalische Grundlagenforschung. Erst vor wenigen Jahren wurde genau hier das Higgs-Teilchen nachgewiesen und das Standardmodell so glänzend bestätigt.
Jetzt wollten sie darüber hinaus. Irgendwo dort draußen lauerten Bestätigungen für verschiedene Theorien. Oder eben nicht, wenn sie nichts fanden. Seit Jahren untersuchte eine der am CERN beteiligten Organisationen das Verhalten der Atome bei hohen und höchsten Energien. In diesem Jahr hatten sie Meßzeit auf dem Large Hadron Collider bekommen und die durften sie nicht vergeuden. Seit dem Neustart des Systems nach der Winterpause beschossen sie eine nur 100 µm dicke Folie aus Platin mit Protonen ständig wachsender Energie. Traf solch ein fast lichtschneller Wasserstoffkern auf einen Atomkern der Platinfolie, zerplatzte dieser und es entstanden große Mengen exotischer Teilchen, deren Zerfallsreaktionen sie emsig studierten.
In den Daten des Vorjahres fanden Sie Hinweise auf eine Anomalie bei einer Teilchenmasse von 750 GeV. Falls sich dahinter ein neues, bisher unentdecktes, Elementarteilchen verbarg, so galt es das jetzt zu verifizieren.
Jürg schrieb an einem Artikel, den er in einigen Wochen zur Veröffentlichung einreichen wollte und sah nebenher die Tabellen durch, die das Netzwerk auf seinen Bildschirm im Büro lieferte. Nichts Auffälliges. Ein bißchen weniger Energieausstoß als sein sollte, aber alles noch im Rahmen der Meßgenauigkeit. Das passierte öfter. Alles im Plan. Auch, dass der Bildschirm zwischendurch kurz schwarz wurde, gehörte dazu. Seine neue USB-Maus meldete sich von Zeit zu Zeit ab und wollte dann vom Betriebssystem wiedergefunden werden.
So früh am Tag brachte er bis auf einen oder zwei Kaffee nichts herunter. Vor allem heute nicht, wo die Nacht solche Spuren hinterlassen hatte. Der Appetit kam erst nach zwei bis drei Stunden. Genau jetzt. Jürg spazierte gemächlich in die Institutskantine und steckte seine Mitarbeiterkarte in den Heißgetränkeautomaten, der mit all seinem blitzenden Chrom ziemlich protzig aussah. Er wählte eine heiße Schokolade, nahm sich einige Stücke Gebäck vom Buffet und setzte sich damit in den fast leeren Pausenraum. Beate, seine Frau, brachte jetzt wohl gerade die Kinder zur Schule. Danach machte sie Homeoffice. Telefonieren mit der Zentrale und mit den Kunden der Bank, für die sie arbeitete.
Sparverträge liefen derzeit wegen der niedrigen Zinsen nicht gut. Aber Immobilien konnte sie gut verkaufen. Wenn ihre Bank denn an welche herankam. Im Großraum Genf gab es nur wenige freie Objekte. Ein komplizierter Markt, den er nie richtig verstanden hatte. Er liebte seine Frau gerade, weil ihr immer wacher Verstand darin aufging.
Heute hatten sie sich zum Mittagessen verabredet. Am Nachmittag gab es nichts für ihn zu tun. Sie würden die Kinder zusammen aus der Schule holen und über die Grenze ins Vitam nach Neydens fahren. Eine Geburtstagsüberraschung für die Jüngste. Ein ruhiger Tag in einer ruhigen Woche. Jürg ließ sich Zeit beim Frühstück und beeilte sich auch auf seinem Rückweg in sein Büro nicht sonderlich.
Ein Fehler, wie sich sofort herausstellte. Als er das Zimmer betrat, sah er schon aus der Entfernung, dass etwas nicht in Ordnung war. Er eilte an die Bildschirme. Die Energiezufuhr durch hochbeschleunigte Protonen war online und befand sich auf stabilem, immer leicht steigendem Niveau. So hatten sie das Experiment geplant. Sie suchten nach ungewöhnlichen Ereignissen in den Myriaden von Kollisionen, die in jeder Sekunde in der Detektorkammer stattfanden.
Er klickte sich durch die Menüs und kontrollierte die Detektoren, die diese Zerfallsereignisse maßen und protokollierten. Die meisten zeigten nicht mehr das übliche Gewimmel verschiedenster Peaks, sondern Nullinien! Der Energieausstoß des Systems hatte sich stark verringert und sank weiter. Nur einige sehr hochenergetische Zerfallsereignisse wurden noch angezeigt.
Wo blieb diese Energie? Die Daten, die ihm der Bildschirm anzeigte, standen in krassem Widerspruch zum Energieerhaltungssatz. Ein Meßfehler? Er wagte sich nicht vorzustellen, was im Speicherring passieren konnte, wenn weiter Energie in ein System gepumpt wurde, das sie nicht vollständig wieder abgab.
Plötzlich poppten Fehlermeldungen auf seinem Bildschirm auf. Die Verbindung in die Kammer schien gestört zu sein. Die Detektoren gingen nacheinander vom Netz. Jürg löste Alarm aus und initiierte eine Notabschaltung.
Der Alarm ging los, aber das System reagierte nicht. Sein Bildschirm wurde wieder schwarz und meldete sich nach einigen Sekunden mit einem Netzwerkfehler. Eigentlich hätte das Beam Protection System bereits ohne sein Zutun vollautomatisch den Protonenstrahl unterbrechen und ihn in den Strahlstopper umleiten müssen, wenn etwas nicht ordnungsgemäß lief. Warum zur Hölle geschah das nicht? Er eilte in den großen Kontrollraum, der einige Zimmer weiter lag. Dort herrschte ebenfalls Unruhe.
»Die Verbindung in die Kammer ist gerade zusammengebrochen. Wir müssen notabschalten! Hat jemand von euch noch Verbindung nach unten? Irgend jemand?«
Er blickte in ratlose Gesichter. Die anderen schienen ebenso überrascht zu sein wie er. Jürg faßte sich als erster. Er mußte nach unten in den Technik-Kontrollraum und das Experiment von Hand beenden. Hoffentlich sah dort jemand die Entwicklung und zog die richtigen Schlüsse daraus. Scheiß Routine. Draußen startete gerade der Frühling durch. Das System lief seit über einer Woche absolut stabil. Sie machten Dienst in ihren oberirdischen Büros, in denen sie freien Blick nach draußen hatten. Kaum einer der Mitarbeiter verbrachte seine Zeit noch tief unter der Erde in der Kammer.
Jürg rannte zu den Fahrstühlen, deren Türen sich gerade öffneten. Ein Schwall von Technikern ergoß sich in den Eingangsraum. Es war Zeit für die allgemeine Frühstückspause.
»Ist noch jemand unten?«, rief er in die Gruppe.
»Ich glaub’ nicht«, antwortete jemand. »Harry«, er deutete auf einen in der Gruppe »hat Geburtstag und wir haben eine kleine Überraschung für ihn organisiert.«
»Wo ist Stefano?«
»Der hat heute frei.«
»Eine Notbesetzung wird doch wenigstens unten sein?« Er sah einige Gesichter, die erröteten. Eine Antwort bekam er nicht.
»Wir reden später darüber«, schnappte er nach einem Moment der Fassungslosigkeit. »Wir haben soeben die Verbindung in die Kammer verloren. Anscheinend wartet dort auch eine Überraschung, und nicht nur auf Harry. Ich gehe jetzt runter.«
Er zögerte einen Moment und wandte sich dann zum Treppenhaus. Der Fahrstuhl erschien ihm zu riskant, wenn dort unten jeden Moment etwas hochgehen konnte. »Seien Sie froh, wenn Doktor Lies davon nichts erfährt! Ach ja, und falls einer von Ihnen es schafft, von hier oben die Notabschaltung zu initiieren, bevor ich es von unten mache, gebe ich eine Kiste Moët aus.«
Jürg ließ eine Reihe entgeisterter Gesichter hinter sich zurück, als er in das Not-Treppenhaus hechtete, das wie ein Schlot in die Tiefe führte. Wer weiß, was passieren konnte, wenn in der Detektorkammer dort unten etwas schieflief. Die Energie des Strahles kam der eines vollbeladenen, fahrenden Güterzuges gleich. Sein Magen rebellierte bei der Vorstellung, dass unten in der Halle vielleicht gerade eine Feder gespannt wurde, die diesen virtuellen Güterzug in die Apparaturen donnern lassen würde.
Schon nach der Hälfte der Strecke kam er völlig außer Atem. Er fühlte sich eindeutig zu unsportlich für 100 Meter Höhenunterschied und nahm sich vor, sofort mit Ausdauertraining anzufangen, sobald diese Geschichte überstanden war. Schwitzend und keuchend kam er nach einigen Minuten unten in der Kaverne an.
Tatsächlich schien er der einzige hier unten zu sein. In der großen Halle mit all den Pumpen, Kühlanlagen und heliumgekühlten Magneten befand sich kein Mensch. Er eilte mit letzter Kraft an die Kontrollen eines der Hauptrechner und löste die Notabschaltung manuell aus. Dann verließ das Universum endgültig den Bereich, in dem das Standardmodell Gültigkeit besaß. Mit seinem Ende kam der Lichtblitz. Er explodierte einfach in seinem Gehirn und brannte es aus.
Kapitel 3. Mike (06.05.2016)
Das matschig graue Licht, das durch die Fenster des Verlagsbüros drang, verkündete den baldigen Morgen und die Gebäude änderten ihre Farbe von schwarz zu verschiedenen Grau- und Rosatönen. Wenn die Sonne sich von unten dem Horizont näherte, fingen sie an, in leuchtendem Orange und Gelb zu erstrahlen. Das Laub der Bäume wurde erst bräunlich rot und dann später grün leuchten. Jetzt kurz vor Sonnenaufgang wurden alle Farben neu geboren.
Es hatte sich gelohnt, die Nacht durchzuarbeiten. Mike Peters saß am Freitagmorgen allein in der Redaktion und platzte fast vor Stolz. Die Recherche brachte endlich Ergebnisse. Er hatte ein Phantom aufgespürt! Vor ihm auf dem Bildschirm erschien eine E-Mail mit Registrierungsinformationen. Registrierungen in einem Hotel. Einem besonderen Hotel, das offiziell nicht existierte und ‘Die Kolonie’ hieß.
Dort stand der Name: ‘W. Stein’. Er folgte seinen Spuren seit über einer Woche. Nun ja, nicht er allein, sondern zusammen mit Sébastien Giroud, einem engen Freund von der Uni. Dieser arbeitete jetzt in der IT der Générale Parisienne Assurances (GPA), Frankreichs größter Krankenversicherung. Er ließ regelmäßig verlauten, dass die Netzwerkadministration, die er dort machen mußte, zwar gut bezahlt wurde, ihn aber zu Tode langweilte. Daher kümmerte er sich mit Freude in einem Teil seiner Freizeit auch um Mikes Projekte, die er wesentlich spannender fand. Zusammen bildeten sie ein gutes Team und hatten ‘W. Stein’ jetzt aufgespürt.
Ein anonymer Tipgeber wies ihn vor einigen Wochen per Mail darauf hin, dass an der Geschichte ‘Wissenschaftler begeht Selbstmord und sein Professor verschwindet spurlos’ mehr dran sein könnte als das, was die Pariser Polizei in ihren spärlichen Untersuchungsberichten herausrückte. Der Professor untersuchte laut Mikes Quelle eine große Sache, die die Welt der Wissenschaft ordentlich durcheinanderwirbeln würde. Da die Mail interne Informationen aus dem Fachbereich des Professors enthielt, die die Polizei offensichtlich nicht besaß, konnten die beiden seine Spur aufzunehmen und ihr ein Stück voraus sein.
Investigative Arbeit gehörte normalerweise nicht zu seinem Tätigkeitsbereich. Sie bereitete ihm aber viel Spaß und er empfand die Herausforderung als willkommene Abwechslung vom täglichen Sichten von Pressemitteilungen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Ein Wissenschaftler von Weltruf, der einfach so von der Bildfläche verschwindet, verlockt natürlich zu wildesten Spekulationen. Er lehnte es ab, auf der Basis von Mutmaßungen einen Artikel zu verfassen. Das entsprach auch der Politik der Verlagsleitung, die um die Seriosität des ‘Magazine de la Science’ fürchtete.
Sébastien folgte Kreditkartendaten und checkte Passagierlisten. Mike redete mit Hotlines und besuchte Leute im ganzen Land. Als Redakteur des führenden Wissenschaftsmagazins Frankreichs hatte er seine Freiheiten. Außerdem gingen viele Leute, die ihre Informationen mit ihm teilten, in dieselben Kneipen und Clubs wie er. Er hatte sich gut vernetzt und wo seine Beziehungen nicht hinreichten, ließ er seinen Charme spielen. Und wo auch das nicht reichte, sprang Sébastien ein und hackte sich in fremde Systeme, bis sie zusammen das nächste Puzzlestück aufspürten. Jetzt – ganz langsam – ergaben die Teile ein stimmiges Bild.
Schnell fanden sie heraus, dass es sich nicht um eine Entführung handelte. Der Professor lebte noch und war wohl aus freien Stücken untergetaucht. Sie rekonstruierten seine letzten Tage und folgten seinen Spuren durch Frankreich, in die USA und wieder zurück, bis sie sich am Ende eines Flugtickets nach Santiago de Chile zunächst verloren. Sébastiens Einsatz verdankten sie es, dass ihre Nachforschungen an dieser Stelle nicht endeten. Mit der Geduld einer Katze, die einen Vogel belauert, suchte er in der näheren und weiteren Umgebung der chilenischen Hauptstadt nach Objekten und Einrichtungen, die die Möglichkeit besaßen, einem Wissenschaftler von Weltrang Zuflucht zu gewähren. Wovor auch immer.
Über die Facebook-Freunde von Alberto Anvar, eines Wissenschaftlers der Universidad de Chile, der wiederum mit Professor Stein befreundet war, fand er einige Hinweise auf die ‘Kolonie’. Der Name erinnerte zwar an ein schlimmes Kapitel der jüngeren chilenischen Geschichte. Offiziell handelte es sich aber nur um ein Hotel. Ein Hotel in einem schwer zugänglichen Flußtal in den Anden ohne jegliche Sehenswürdigkeit weit und breit. Ein Hotel fernab aller Straßen und ohne Internet.
Ein kurzer Check über die gängigen Satelliten-Karten zeigte Mike, dass sich an diesem Ort unmöglich nur ein Hotel befinden konnte. Auf einer natürlichen Halbinsel zwischen den beiden Armen eines kleinen, gewundenen Flüßchens befanden sich eine ganze Reihe größerer Gebäude und ein weitläufiges, parkähnliches Grundstück mit einigen Bungalows zog sich die Hänge hinauf. Die Auflösung der Aufnahmen lag an der untersten Grenze dessen, was man für solches Kartenmaterial verwendete. Dennoch konnte man mit etwas Fantasie sogar technische Anlagen sowie Absperrungen und Zäune erahnen.
Die Sicherheitsvorkehrungen ließen auf etwas Größeres schließen, militärisch möglicherweise. Die Unmöglichkeit, auf anderen Wegen herauszufinden, was sich dort wirklich befand, ebenso. Auch die Verbindungen nach außen mußte Sébastien mit der Lupe suchen. Schließlich fand er eine Art Treuhänder oder Steuerberater in Santiago, der in regelmäßiger Verbindung mit dieser Anlage stand. Auf einer seiner Festplatten entdeckte Sébastien schließlich die entscheidenden Informationen. Demnach handelte es sich um eine Art wissenschaftlicher Stiftung mit unklarem Zweck und unbekannten Eigentümern. Neben anderen Unterlagen lud Sébastien auch eine Liste der Besucher der letzten Monate herunter und genau die lag jetzt vor ihm.
Marie Bouesnard, seine Assistentin, traf gerade ein und kam mit Café au lait und Croissant herein. »Hallo Michel, Du siehst aus wie eine Katze, die einen Vogel gefangen und gefressen hat. Dann hat sich die Nachtschicht wohl gelohnt.«
Mike sah sie gequält an. »Nenn mich nicht immer Michel. Du weißt, dass ich das nicht mag.«
»Ja, Michel.« Mike verdrehte die Augen, aber Marie konnte sich das herausnehmen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Dafür arbeitete sie zu gut und außerdem waren sie auch privat befreundet. Sie kümmerte sich um das Team in der Zeit, in der er seinen Spuren folgte. Sie hielt ihm den Rücken frei und delegierte die Recherche an die Redaktionspraktikanten, arme Studenten, die hier für einen Hungerlohn und die Aussicht, vielleicht irgendwann einmal fest eingestellt zu werden, die Zuarbeiten für die Redakteure machten.
Er liebte diese Zustände nicht, aber er hatte sie nicht gemacht und er wußte genügend um die Finanzen des Verlags, um zu verstehen, dass es heutzutage nicht mehr anders ging, wenn man ein Printmagazin am Leben halten wollte.
»Ja, ich hatte Erfolg. Ich kenne jetzt den Aufenthaltsort von Professor Stein.« Er nahm genußvoll einen Schluck von seinem Milchkaffee. Seine Hitze und die leichte Karamelnote im Abgang regten seine Sinne an und verscheuchten die Müdigkeit für eine Weile. »Und ich bin ihm buchstäblich ans Ende der Welt gefolgt.«
»Heißt das, ich kann jetzt wieder meiner normalen Arbeit nachgehen?« Marie sammelte systematisch die Kaffeebecher ein, die im ganzen Zimmer herumstanden. Mike hatte die Angewohnheit, sie zu vergessen, wenn er konzentriert arbeitete. Er holte sich dann einfach einen neuen Kaffee und die alten Becher standen irgendwo herum und ihr Inhalt wurde kalt.
»Noch nicht ganz. Ich muß den Professor zunächst besuchen und seine Version der Geschichte erfahren. Das könnte sogar der schwierigere Teil der Geschichte werden.«
Die Betreiber des Hotels, das offiziell nicht existierte, schirmten es streng nach außen ab. Seine Abgelegenheit schützte es zusätzlich. Dort hinein- und vor allem gesund wieder herauszukommen, würde noch einiges an Vorbereitung erfordern. Das sagte er ihr aber nicht. Sie würde sich Sorgen machen. Zu Recht.
Marie war ein kleines, drahtiges Persönchen. Ihre grünen Augen harmonierten gut zu der Stupsnase in ihrem Gesicht, um die sich ein paar einsame Sommersprossen tummelten, die sie ebenso regelmäßig wie erfolglos zu überpudern versuchte. Die Haare trug sie braun gefärbt mit einzelnen, blonden Strähnchen. Alles in allem verbrachte sie sicherlich jeden Tag einige Zeit damit, sich für die Welt da draußen zurechtzumachen. Der Aufwand, den sie trieb, lohnte sich, denn die meisten Männer ließen sich von ihr problemlos um den Finger wickeln. Eine Fähigkeit, die sie als Mikes Assistentin geschickt einzusetzen wußte.
»Du mußt aber sehr bald wieder mit Deiner normalen Arbeit fortfahren. Am besten gestern!« Sie goß mittlerweile die mehr oder weniger spärlichen Inhalte der Becher zusammen und stapelte danach die leeren Becher alle säuberlich ineinander. »Ich weiß mir zwar zu helfen. Aber auf ewig kann ich Dir die Chefetage nicht vom Leibe halten, wenn Du nicht bald Ergebnisse lieferst.«
»Ich werde im Verlauf des Wochenendes hoffentlich in Erfahrung bringen können, wie ich zu Professor Stein und wieder zurückkomme. Sollte ich bis Sonntag noch keinen Plan haben, werde ich in den nächsten Wochen business-as-usual machen. Versprochen.«
Marie verließ den Raum und er rief ihr noch scherzhaft hinterher: »Ich hoffe, dass Du damit nicht den Automaten neu bestückst. Zumindest würde das erklären, warum sein Kaffee so schmeckt, wie er eben schmeckt.«
Er lächelte in sich hinein und nippte weiter an seinem Getränk, während er die Nachrichten durchsah, die jetzt von den Agenturen hereintröpfelten. Die Welt geriet zwar immer mehr aus den Fugen, aber sie ließ sich genug Zeit damit, dass einen die Entwicklungen nicht überrollten. Er konnte dabei froh sein, dass nicht schon wieder ein neues Attentat die Schlagzeilen beherrschte. So drangen genügend wissenschaftliche Nachrichten an die Oberfläche, damit seine Redaktion ihre Arbeit machen konnte.
Ein Kongreß von Physikern in Paris wurde verschoben, weil gleich mehrere der Hauptredner sich krank gemeldet hatten. Eine halbwissenschaftliche Fanseite berichtete von einer neuen Variante der M-Theorie, die angeblich alle Naturkräfte inklusive der Gravitation widerspruchsfrei unter einem Dach vereinigte. Er hatte zwar davon schon gehört, aber die mathematischen Details überstiegen seinen Horizont deutlich. Außerdem erschien ihm die Quelle nicht seriös genug. Sollte etwas an dieser Theorie dran sein, würde sie nicht auf einer Webseite veröffentlicht werden, die in einem Atemzug über den angeblichen Beweis referierte, dass Mikrowellen krebserregend seien und Massenimpfungen futuristisches Teufelszeug zur Kontrolle der Bevölkerung.
Im südlichen Jura hatte es ein leichtes Erdbeben gegeben. Das Epizentrum lag an der französischen Grenze in der Nähe von Genf. Das Jahrestreffen der Seniorexperten Chemie der Gesellschaft Deutscher Chemiker würde übernächste Woche stattfinden. Einer seiner Kontakte, ‘Lobélia’ (nach eigenen Angaben ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des MIT), hatte sich gemeldet und um ein Gespräch gebeten. Bei allem handelte es sich um nichts Aufregendes und es würde Marie sicher nicht überfordern.
Gegen Mittag machte er Schluß. Er würde das Wochenende sowieso hier verbringen. Da konnte er sich unbesorgt den Rest des Freitags freinehmen. Auf dem Weg nach Hause wäre er auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville beinahe in eine Gruppe Touristen gerannt, weil ihm dauernd die Augen zufielen. Sie schossen eifrig Selfies vor der Fassade und nahmen ihn kichernd als Lokalkolorit zur Kenntnis. Dieses Nachtleben bekam ihm nicht mehr so gut, wie früher, fand Mike. Warum konnten sich seine Quellen bloß nicht an die offiziellen Bürozeiten halten, fragte er sich schläfrig, während er die Treppen zu seinem Appartement im vierten Stock hinaufstapfte.
Zu Hause schaltete er als erstes das Radio an. Etwas anspruchslose, ruhige Musik wäre jetzt gut. Er machte sich eine Dose Cassoulet auf. Während der Eintopf auf dem Herd stand, räumte er die Spülmaschine aus, füllte die Waschmaschine mit seinen Anziehsachen und schlüpfte in seinen bequemen, schwarzen Trainingsanzug. Er aß mit Genuß. Französische Fertiggerichte sind generell hochwertiger als deutsche und er wußte, in welchem Supermarkt es die besten davon gab.
Danach zog es ihn mit einem Espresso aufs Sofa. Kaum saß er aber dort, so lag er auch schon und schlief sofort ein. Unruhige Träume quälten ihn. Gegen die Reise, die ihm jetzt bevorstand, war das Dschungelcamp ein Kinderspiel.
Stundenlang lief er durch nächtliche Wälder. Professor Stein befand sich irgendwo vor ihm, aber jedes Mal, wenn er glaubte, ihn zu fassen zu bekommen, entschwand dieser wieder zwischen den Büschen und das Dickicht schien undurchdringlich zu sein. Er mußte ihn als erster erreichen, denn er war nicht der einzige Jäger im Dschungel. Hinter sich hörte er Schritte und laute Geräusche, so als ob etwas sehr Schweres durch die Büsche brach. Endlos schien sich diese Jagd hinzuziehen. Über Stock und Stein, durch flache Wasserläufe, über kleine Lichtungen und einen Berg hinauf.
Endlich wachte er auf, ohne den Professor erreicht zu haben. Er hatte sein T-Shirt unter der Trainingsjacke durchgeschwitzt. Das Abenteuer, das ihm bevorstand, ängstigte ihn weitaus mehr, als er anderen gegenüber zugegeben hätte. Selbst Sébastien gegenüber mochte er diese Schwäche nicht eingestehen. Immerhin hatten sie gemeinsam einige Nächte Arbeit in das Projekt gesteckt.
Jetzt, wo sie wußten, wo sich der Professor befand, mußte er ihn auch befragen. Mike hatte einige Ideen, wie er das Risiko für sich minimieren konnte. Unterm Strich blieb es aber ein gewagtes Spiel, sich so weit auf unbekanntes Terrain zu wagen. Außerdem würde er am Schluß improvisieren müssen, denn er konnte erst vor Ort herausfinden, auf welchem Wege er am risikolosesten auf das Gelände kam, um den Professor zu finden.
Trotz allem schien ihn der Schlaf regeneriert zu haben. Er fühlte sich etwas wacher als vorhin auf dem Heimweg. Er schaltete seinen Kaffeevollautomaten wieder ein, setzte sich mit einem Milchkaffee ans Notebook und loggte sich in der Redaktion ein. Die meisten Mails fand er bereits bearbeitet vor. Was würde er nur ohne Marie machen, fragte er sich rhetorisch und lächelte.
Ein Memo hatte sie ihm hinterlassen: ‘Cher Michel, eben hat noch jemand angerufen, der sich Lobélia nannte. Er sagt, er kennt Dich. Es schien ihm wichtig zu sein und er bestand darauf, Dich persönlich zu sprechen. Ich habe ihm gesagt, daß Du am Wochenende arbeitest. Er will es dann nochmal versuchen. LG Marie. P.S.: Irgendwas war komisch (außer der unterdrückten Nummer). Er klang irgendwie nervös. So, als ob sein Chi nicht im Gleichklang wäre.’
Er runzelte die Stirn. Er haßte seinen richtigen Vornamen seit seiner Schulzeit und versuchte immer wieder, ihn unter Verschluß zu halten und durch das einfachere ‘Mike’ zu ersetzen. Leider gelang ihm das nicht bei jedem. Seine Physiklehrerin am Lycée hatte ihn seinerzeit sehr unfair behandelt. Jedenfalls empfand er das so. Ihr genäseltes ‘Michel’ klang ihm heute noch in den Ohren, wenn er seine Erinnerungen Revue passieren ließ. Wenn ihn jemand unvermutet so anredete, bekam er jedes Mal eine Gänsehaut.
Eine Mail von seinem anonymen Kontakt lag noch im Eingangskorb. Eigenartig, dass er sich gerade heute meldete. In den letzten zwei Wochen hatte er nichts von sich hören lassen.
‘Sehr geehrter Herr Peters, ich würde mich freuen, wenn Sie mich gelegentlich über die Fortschritte bei Ihren Nachforschungen auf dem Laufenden halten würden. Wir machen uns hier alle große Sorgen um Professor Stein. Mit freundlichen Grüßen S.M.’ Im Absenderfeld stand ein Einmalpostfach bei einem großen Anbieter. Keine Chance, etwas über seine Identität herauszubekommen.
Mike überlegte kurz und antwortete dann: ‘Sehr geehrte(r) S.M., Ihre Nachfrage ehrt mich. Derzeit sind meine Fortschritte leider nur marginal. Allerdings verstehen Sie sicher auch mein Interesse, zu wissen, wer sich da so große Sorgen um seinen Kollegen(?) macht. Ich könnte Sie einfacher auf dem Laufenden halten, wenn ich wüßte, mit wem ich rede. Mit freundlichen Grüßen M.P.’
Er versuchte noch, die restlichen Mails zu Ende zu bearbeiten, aber nach einigen Minuten verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Seine Konzentration ließ jetzt genauso schnell nach, wie er sie wiedergewonnen glaubte. Allerdings fühlte sein Körper sich noch nicht müde.
Mike entschloß sich, auszugehen, um ein wenig auf andere Gedanken zu kommen. Es gab einige Kneipen im Marais, dem Stadtviertel, in dem er lebte, in denen er vielleicht Freunde treffen würde. Essen gehen mit Sébastien. Entspannt reden bei einem schönen Glas Rotwein in lauschiger Atmosphäre, das wäre jetzt was. Und falls er später in den Bars niemanden treffen würde, gab es noch einen Tanzclub in der Nähe der Rue des Archives. Dort konnte er immer prima abschalten.
Mike brauchte sich keine Sorgen darum zu machen, dass es ihm dabei an Unterhaltung und Ansprechpartnern mangeln würde. Er war hochgewachsen, wenn auch nicht allzu schlank. Er fand keine Zeit für ein regelmäßiges Training im Studio und er aß viel zu gerne und nicht immer regelmäßig. Das hinterließ Spuren auf seinen Hüften.
Die blaugrünen Augen in seinem jungenhaften Gesicht strahlten aber große Herzlichkeit aus in Verbindung mit einer gewissen kindlichen Unschuld. Sein wilder, brauner Haarschopf, den er ebenso regelmäßig wie erfolglos mit Gel in Form zu bringen versuchte, unterstrich das perfekt. Er besaß ein freundliches Wesen und seine Manieren stammten aus der diplomatischen Schule seiner Mutter. So flogen ihm die Herzen beider Geschlechter zu, sobald man mehr als einige Worte mit ihm gewechselt hatte.
Außerdem hatte er sich bestens vernetzt und kannte eine Menge Leute. Er bevorzugte dabei privat allerdings Männer. Die kurzen Affairen, die er in seiner Studienzeit mit Frauen hatte, ließen ihn immer mit dem Gefühl zurück, dass dabei eine wichtige Komponente fehlte. Diese fand er in den Clubs des vierten Arrondissements.
Mike duschte ausgiebig, schnitt seinen Bart ganz kurz und zog sich frische Kleidung an. Kurzärmelig, Jeans und schwarze Sambas wählte er für einen lauen Abend wie heute. Er gelte seine Haare neu, legte ein leichtes Parfüm auf und warf sich noch einen dünnen Pullover um die Schultern. Dann marschierte er beschwingt die Treppen hinunter. Gerade ging er zur Haustür hinaus, da klingelte sein Handy.
Kapitel 4. Maurice (06.05.2016)
Den Beat der Musik hörte man selbst hier unten. Kleine Lautsprecher unter der Decke verbreiteten ihn. Kaum zu erkennen, weil sie mit Tarnnetzen verhängt war. Leise wummerten die Bässe, nach denen sich oben auf der Tanzfläche rhythmisch zuckende Leiber verrenkten.
Maurice Belloumi stand allein hier unten. So zeitig am Abend gab es nur wenig Gesellschaft. Zu früh, um Spaß zu haben. Er lehnte lässig an einer Backsteinmauer und beobachtete die leere Szene. In einigen Stunden würde es hier unten genauso voll werden wie oben. Schwitzende Körper streifen durchs Halbdunkel – taxierende Blicke – ein Markt für frisches Fleisch. Paare und Gruppen finden sich. Wechseln einige Worte. Dann verschwinden sie in einer der Kabinen, deren Türen jetzt alle offenstanden. Maurice kannte das von ungezählten Malen davor. Es lief jedes Mal gleich ab.
Aber das alles würde erst später passieren. Die Luft roch noch unverbraucht, wenn auch nicht angenehm. Nach verschüttetem Bier und kaltem Rauch. Ein Geruch, so penetrant, dass selbst die dicken Mauern ihn auszuatmen schienen. Auch wenn die Clubs in Paris auf behördliche Anordnung schon lange extra Zonen für Raucher ausweisen mußten, steckte der Geruch aus früheren Zeiten noch tief im Gemäuer. Keine Reinigung konnte ihm beikommen. Man würde das Haus abreißen müssen, um ihn zu beseitigen.
‘Bald kommen weitere Noten dazu’, dachte sich Maurice. Schweiß. Parfüm. Gummi. Leder. Halbnackte Männerkörper. Geilheit. Auch die hatte eine spezielle Note, die seine von Kindheit an überempfindliche Nase zielsicher zwischen all den anderen Gerüchen herausfiltern konnte.
Er stand schweigend da. Genoß die Ruhe und kaute einen Kaugummi. Die Daumen in die Taschen seiner Lederjeans gehakt. Ein schwacher, kalter Luftzug drang durch eine geöffnete Kellertüre. Ihn fröstelte kurz und die Nippel unter seiner Lederweste richteten sich auf. Er sah sehr männlich aus, wie er dastand, und er wußte um seine Wirkung auf andere. Sein Körper war mittelgroß mit breiten Schultern. Die Folgen regelmäßigen Sports. Seine Gesichtszüge sahen nicht ebenmäßig aus, aber interessant. Klare braune Augen, volle Lippen, eine etwas zu große, arabische Nase, leicht abstehende Ohren, kurze braune Haare und Sechstagebart.
Eine Narbe an der linken Schläfe, die unter dem kurzen Haar bei diesem Licht nicht zu erkennen war, von einem Kampf, als sie zu einem Spiel von Saint Germain abkommandiert waren. Trainierte Arme mit sehnigen Unterarmen. Nicht zu muskulös, aber ein angenehmer Anblick. Die Ranken eines Tribals wanden sich um seinen Oberarm über die linke Schulter in Richtung Hals. Der leicht braune Teint seines algerischen Vaters kam hier unten leider nicht zur Geltung, aber bei Tageslicht schauten sich die Frauen nach ihm um, wenn er wieder im Arrondissement Streife ging.
Das interessierte ihn wenig. Er stand auf Männer. Richtige Männer, nicht die Zerrbilder aus den Lifestyle-Shows der privaten Fernsehsender. Kräftige Kerle, die auch mal nach Mann riechen durften und nicht nur nach After Shave. Die Art Männer, wie sie sich hier in einigen Stunden tummeln würden. Darauf wartete er. Für sie hatte er sich zurechtgemacht …
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