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Das Universum des Moíra-Zyklus
In den ersten beiden Bänden des Zyklus haben unsere Protagonisten herausgefunden, dass unsere Welt einige kleine, aber wichtige Eigenschaften aufweist, die sich mit dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht erklären lassen. Die meisten Abweichungen lassen sich auf eine Singularität zurückführen, die 2016 am CERN bei Genf bei einem fehlgeschlagenen Experiment im Hauptbeschleuniger auftrat.
Diese Anomalie führt in ein Paralleluniversum, das durch die Schwerkraft mit unserem verbunden ist und in dem alles aus Antimaterie besteht. Diese Antimaterie kann jederzeit in unsere Welt eindringen und bildet eine ständige Gefahr. Außerdem ereignen sich im Umfeld dieser Pforte paranormale Phänomene.
Zum Glück ist das nicht allgemein bekannt und niemand hat ein Interesse daran, eine Massenpanik auszulösen. Neben den Wissenschaftlern vor Ort und Professor Walter Stein aus Paris weiß nur das Team des Pariser Journalisten Mike Peters davon. Er ist dem Phänomen seinerzeit durch hartnäckige Recherchen auf die Spur gekommen. Auch die wissenschaftliche Geheimgesellschaft Moíra, der Professor Stein angehört, ist informiert und hat in der Vergangenheit bereits Feuerwehr gespielt.
Problematischer ist die Mitwisserschaft eines aus Russland gesteuerten Firmenkonsortiums. Es versucht, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dem Phänomen zugrunde liegen, Kapital zu schlagen. Nach einer gescheiterten Einmischung in das Geschehen am CERN im vergangenen Jahr ist es jedoch vorerst ruhig geworden …
Neutronenreiter – Prolog (22.12.2017)
Professor Walter Stein saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl. Bei seinen letzten Aufenthalten in der Kolonie hatte ihm noch ein schlichter, hölzerner Liegestuhl genügt, doch mittlerweile fühlte er sich zu schwach, um aus eigener Kraft aufzustehen. Seine einst so wachen und interessierten Augen lagen tief in ihren Höhlen. Wer ihn heute sah, mochte nicht glauben, dass dieser Mann einmal ganze Hörsäle in seinen Bann gezogen hatte.
Die Luft flimmerte jetzt am Mittag vor Hitze, aber Walters Stuhl stand im lichten Schatten einer Araukarie, die ihn vor der direkten Sonne schützte. Auf dem Tischchen neben ihm lag ein Buch aufgeschlagen auf dem Gesicht. Auf dessen Rücken stand der Name des Autors: Isaac Asimov. Den Rest Kaffee im Becher daneben hatte Walter schon eine Zeit lang nicht mehr angerührt. Trotz der Wärme hatte er sich die Decke bis unters Kinn gezogen. Nur seine knochigen Hände lagen unbedeckt auf den Stuhllehnen. Über sie spannte sich dunkle Haut dünn wie Pergament.
»Hallo Walter, wir haben Besuch.«
Er schreckte aus seinem Dämmerzustand hoch und erblickte zwei Frauen vor sich. Er kniff die Augen zusammen.
»Klotho, wie schön, dass du mir ein wenig Gesellschaft leistest! Mein Betreuer hat mich vorhin hierher geschoben und es mir gemütlich gemacht.«
»Dies ist einer der schönsten Orte im Tal. Man überblickt die ganze Siedlung. Ich bin auch gern hier«, sagte Klotho Papantoniou. Sie leitete das Projekt und verdankte es nur ihrer Vorsicht und der Abgeschiedenheit dieses Ortes in den Hochanden, dass ihre Organisation Moíra nahezu ungestört arbeiten konnte.
Aus einem mitgebrachten Baumwollbeutel zog sie eine Thermoskanne und drei Becher, die sie auf das Tischchen stellte und mit Tee füllte. Währenddessen trat die zweite Person heran. Sie stellte zwei Klappstühle auf, die an der Araukarie gelehnt hatten.
Walter musste die Augen erneut zusammenkneifen, damit er auch sie erkannte.
»Amélie, was für eine Freude! Besuchen Sie Ihre Mutter?«
Diese wich dem fragenden Blick aus, als das Wort Mutter fiel. »Ich bin viel zu selten hier«, murmelte sie schließlich.
»Wie geht es Ihnen? Hatten Sie eine angenehme Reise?«
»Es ging. Ich wurde im Flieger gut versorgt. Nur der Jetlag macht mir etwas zu schaffen.«
»Wo ist eigentlich Logan?« Walter blickte sich um. »Sie haben doch Ihren Freund nicht zu Hause gelassen?«
»Leider doch. Er befindet sich wieder mal auf etwas, das er Klantreffen nennt. Er macht immer ein großes Brimborium darum. Weiß der Himmel, was die da treiben. Aber ich werde es bald herausfinden. Bei einem der nächsten Male darf ich nämlich mit.«
»Mir scheint, die Monate des Zusammenlebens haben Ihnen gutgetan. Sie vermissen ihn jetzt bestimmt.«
»So richtig wohnen wir noch nicht zusammen. Wir sehen uns nur an den Wochenenden. Er studiert ja in Cambridge, aber wir besuchen uns wechselseitig. Trotzdem frisst es an mir, dass wir uns so wenig sehen.«
Walter warf ihr einen prüfenden Blick zu und wechselte dann das Thema.
»Ich freue mich, dass wenigstens Ihr beide etwas Leben in die leeren Räume meines Pariser Hauses bringt.«
»Und ich bin froh, dass wir dort wohnen dürfen.« Amélie setzte sich Walter gegenüber und lächelte ihn an. »Es fühlt sich zwar immer noch nach der Flucht an, die es eigentlich war, aber ich habe in der Stadt gute Freunde, die mich auffangen, wenn mir mal wieder die Decke auf den Kopf fällt.«
»Hoffentlich haben Sie das Attentat in der Zwischenzeit verarbeitet.«
»Ich beschäftige mich. Es war ein ziemlicher Schock für mich, als ich erkannte, dass man einen Romeo eingesetzt hat, um über mich Druck auf meine Mutter auszuüben. Die Arbeit hilft mir, darüber hinwegzukommen. Meine Kurse am St. John’s kann ich glücklicherweise auch online halten. Die Collegeleitung hat Verständnis für meine Situation.«
Walter versuchte erfolglos, sich in seinem Rollstuhl ein wenig aufzurichten. Amélie bemerkte das, erhob sich, half ihm dabei, zog anschließend seine Decke wieder hoch und legte ihm ein Kissen in den Rücken. Klotho reichte währenddessen die Teebecher herum, aus denen es aromatisch duftete.
»Auf das junge Paar!« Walter tat so, als würde er seinen Gesprächspartnern zuprosten. »Und auf Ihre Mutter, die mir hier in den letzten Wochen meines Lebens Unterschlupf gewährt.«
»Ich wünschte, du wärst früher zum Arzt gegangen.« Klotho blickte ihn an und kniff die Augen ein wenig zusammen. Ob sie das Licht blendete oder ob eine Träne in ihrem Augenwinkel schimmerte, konnte Walter nicht genau erkennen. »Vielleicht hätten sie dir dann noch helfen können.«
»Das lässt sich nicht mehr ändern. Ich hatte ein erfülltes Leben. Eigentlich bedauere ich nur eines: dass ich nicht mehr Zeit mit dir verbracht habe.«
»Da haben wir uns wohl nichts geschenkt«, sagte Klotho und strich ihm zärtlich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Ich fand auch viel zu lange, dass das Wort Liebe in meinem Leben keinen Platz hat.«
Walter schmiegte seine Wange an ihre Hand.
»Walter … es ist so, dass … dass ich … dass wir …« Amélie blickte hilfesuchend zu ihrer Mutter, die ihr liebevoll zunickte und den Faden aufnahm:
»Wir müssen etwas Persönliches mit dir bereden. Etwas, das ich dir schon lange hätte sagen sollen.«
»Dann mal raus damit«, ermutigte Walter sie.
»Du hast mich nie gefragt, wer eigentlich Amélies Vater ist.«
»Ich weiß erst seit einem Jahr, dass du ihre Mutter bist, und war mir nicht sicher, ob ich das Recht habe, diese Frage zu stellen.«
»Du erinnerst dich an das Konzert im Central Park 1981?«
»Wie könnte ich das je vergessen? Ich habe dort einen der schönsten Abende meines Lebens verbracht und hatte eine bezaubernde Frau an meiner Seite.« Walter warf Klotho einen wehmütigen Blick zu.
»Du bist immer noch der alte Charmeur.« Klotho trank einen Schluck Tee und war froh, dass sie Becher benutzten, und keine Tassen, sonst hätte Walter am Klappern auf der Untertasse gemerkt, wie sehr ihre Hand zitterte. »Nun, es ist so, dass Amélie neun Monate nach dieser wunderbaren Nacht geboren wurde, von der ich übrigens keine Minute bereue.«
Walter wirkte von einer Sekunde auf die andere so abwesend, dass die beiden Frauen ihn besorgt beobachteten. Er stellte seinen Teebecher ab, legte den Kopf zurück und kurz schien es so, als wolle er einschlafen.
Klotho wollte gerade eine Frage stellen, als er die Augen wieder aufschlug.
»Wir haben nie über diese Nacht gesprochen. Du bist zu emanzipiert und ich war zu schüchtern.« Walter sprach ruhig und sachlich, aber seine Stimme vibrierte stärker, als sie das sonst tat. »Eigentlich weiß ich aber schon lange, dass du, Amélie, meine Tochter bist. Seit dem Moment, in dem ich dein Alter erfahren habe. Ich kann doch rechnen. Komm, lass dich umarmen.«
Amélie beugte sich zu ihm herüber und schlug die Decke ein wenig zurück. Dann stand sie auf, kniete sich neben seinen Stuhl, nahm Walter vorsichtig in die Arme und strich ihm zärtlich über die verbliebenen Haare. Sie hielten sich eine Zeit lang umschlungen und Walter gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Letztlich brach Klotho das Schweigen: »Ich bin übrigens an dieser Situation schuld. Ich habe Amélie gebeten, das Geheimnis für sich zu behalten. Ich hatte Angst, dass es dich und mich angreifbar macht.«
»Du und deine Neurosen. Einen Teil der Schuld trage ich aber selbst. Ich habe unseren Kontakt viel zu oft nur auf das Geschäftliche beschränkt. Das bereue ich schon lange.« Walter löste sich aus Amélies Umarmung und senkte seinen Blick kurz, ehe er fortfuhr: »Ich kann es dir nicht verübeln, dass auch du deine Prioritäten gesetzt hast.«
Klotho und Walter führten diese kurze Unterhaltung in einem so abgeklärten Tonfall, als handelten sie gerade einen Mietvertrag aus. Amélie blickte einige Male zwischen beiden hin und her und schüttelte dabei den Kopf. Sie fixierte schließlich eine Wurzel, die am Boden zwischen ihren Füßen verlief, redete erst nach einer ganzen Weile weiter, und rang sichtlich um Formulierungen:
»Liebe Mama, lieber … Vater … es ist ja schön, dass ihr euch gegenseitig von aller Verantwortung freisprecht. Ich hätte mir als Kind dennoch gewünscht, dass ihr mehr für mich da gewesen wärt. Ihr beide!«
Ihre Augen blitzten dabei und ihre Stimme klang auf einmal so zornig, dass Klotho und Walter einen betretenen Blick wechselten.
»Stattdessen habe ich Jahre in Internaten verbracht.« Klotho machte eine Handbewegung, um sie zu unterbrechen, aber Amélie redete einfach weiter: »Mama, mir ist klar, dass du im Rahmen deiner Möglichkeiten alles für mich getan hast, und schlecht ist mir die Schule auch nicht bekommen. Ich habe dort gelernt, mit dem zu leben, was ich erhalte. Aber deine Geheimnisse für mich zu behalten, ist manchmal verdammt schwer. Erwartet also bitte keine Absolution von mir!«
Sie blinzelte einige Male und wischte sich mit dem Ärmel fahrig durchs Gesicht. Dann rappelte sie sich auf und hastete wieder ins Tal hinunter. Einige Male wäre sie beinahe auf der abschüssigen Strecke ausgerutscht. Sie wurde erst langsamer, nachdem sie den Steg hinter sich gelassen hatte, der einen den Araukarienhügel umfließenden Bach überquerte.
Walter erkannte, dass Klotho ihr folgen wollte, und hielt sie zurück.
»Warte bitte. Du weißt schon, dass sie recht hat. Wir waren beide keine guten Eltern.«
»Natürlich weiß ich das, verflucht! Ich fühle mich nur gerade selbst zum Heulen.«
Walter hob die Augenbrauen über Klothos unerwarteten Gefühlsausbruch.
»Ich mich doch auch. Zum Glück packen mich die Schmerzmittel in Watte, sonst …« Auch Walter musste schlucken.
»Ich bin immer irgendwelchen Sachzwängen gefolgt«, schimpfte Klotho. »Ich hätte mich stattdessen auch einmal nach meinen Gefühlen richten sollen. Sie hat völlig recht, sauer zu sein.«
»Besser, die Einsicht kommt spät, als nie. Ich fühle mich jedenfalls erleichtert, dass die Fakten jetzt auf dem Tisch liegen. Dann habe ich mein Testament nicht umsonst geändert.«
»Du hast … was bitte?«
»Mein Testament. Schon vor einigen Monaten. Amélie soll mein Haus bekommen. Sie wohnt sowieso schon dort und weitere Verwandte habe ich nicht mehr. Mein Geld geht an deine Organisation verbunden mit einer Bitte.«
»Du hast Hintergedanken? Wie ungewöhnlich.«
Normalerweise kamen die Hintergedanken von Klotho.
»Ich möchte, dass du ein Auge auf Monsieur Peters hast. Ihr werdet bald vor einer Herausforderung stehen, die ihr nur gemeinsam lösen könnt.«
»Was für eine Herausforderung meinst du?«
»Es ist nichts, worauf du dich vorbereiten könntest. Sorge bitte nur dafür, dass Peters dich erreichen kann, wenn es soweit ist.«
»Ich werde darüber nachdenken.« Klotho wich Walters Blick aus. »Du klingst übrigens gerade wie Kassandra von Troja.«
»Oh, ich habe noch mehr Prophezeiungen. Vergiss nur bitte nicht, dass Kassandra am Ende immer recht hatte, obwohl ihr niemand geglaubt hat.«
»Bist du sicher, dass du nicht fieberst? Es ist heiß, aber du hast dich unter deiner Decke verkrochen, als wäre es tiefster Winter.« Klotho fühlte mit der Hand seine Stirn.
»Es ist wohl so, dass man in meiner Situation für Entwicklungen empfänglicher wird, die man sonst nicht wahrnimmt. Ich möchte dich aber um noch etwas bitten. Es wird sich für dich verrückt anhören.«
»Noch verrückter?« Eine steile Falte zeigte sich auf Klothos Stirn.
»Ja. Ich glaube daran, dass wir nach unserem Tod in den Erinnerungen der anderen weiterleben. Wenn ich dich in deinen Träumen besuche, musst du mir zuhören. Versprichst du mir das?«
Klotho nahm Walters Hände in ihre. »Mich besuchen? Du drückst dich gerade ziemlich schwer verständlich aus. Na gut, ich verspreche es. Auch wenn ich nicht verstehe, welchen Sinn das haben soll.«
»Das wirst du noch.«
»Warum gibst du mir das Gefühl, als wüsstest du etwas, das ich nicht weiß?«
»Ich kann nicht darüber reden. Die Oberste Temporale Direktive gilt nicht nur für Zeitreisen.« Walter zuckte einige Male mit den Nasenflügeln, als müsse er einen Niesreiz unterdrücken. »Und jetzt geh zu deiner Tochter – unserer Tochter – und bitte sie für mich um Verzeihung.«
»Wenn, dann für uns beide! In diesem Punkt hast du recht, auch wenn ich gerade das Gefühl habe, dass du ansonsten ziemlichen Unsinn redest.« Mit diesen Worten erhob sie sich und verschob seinen Rollstuhl so weit, dass er auch für die nächsten Stunden im Schatten des Baums bleiben würde. »Ich lasse dich später abholen. Schlaf jetzt ein wenig.«
»Schlafen kann ich noch genug.«
Walter blickte ihr nach, bis sie den Steg über den Bach überquert hatte. Dann nahm er sein Buch wieder zur Hand und las weiter. Aber nicht lange, dann fielen ihm die Augen zu und er ließ das Buch sinken. Die ruckartigen Bewegungen seiner Augäpfel unter den geschlossenen Lidern verrieten, dass er träumte.
Klotho fand ihre Tochter weiter unten am Bach sitzend. Sie hatte Schuhe und Socken ausgezogen, die Hosenbeine hochgekrempelt und kühlte ihre Füße im strömenden Wasser. Klotho blieb kurz bei ihr stehen, dann entledigte sie sich ihrer Sandalen und ließ sich neben ihr nieder.
Beide saßen schweigend da und blickten auf die Paneele des Solarkraftwerks, die sich die gegenüberliegenden Hügel hochzogen.
Erst nach einigen Minuten unterbrach Klotho die Stille:
»Du hast völlig recht, mein Kind. Was ich dir zugemutet habe, ist nicht in Ordnung.«
»Das war es nie.« Amélies Stimme schwankte. »Ich weiß schon, dass ich mit Verpflichtungen aufgewachsen bin, denen ich mich nicht entziehen kann. Mir ist nur gerade klar geworden, wie schön es hätte sein können, wenn ihr beide zusammen gelebt hättet. Das hat mich für einen Augenblick überwältigt.«
»Ich kann dich nur in meinem und Walters Namen um Verzeihung bitten. Wir wissen jetzt auch, dass wir es zusammen hätten viel schöner haben können. Wir standen uns selbst im Weg.« Sie legte versuchsweise einen Arm um Amélies Schultern und – als die sich der Liebkosung nicht entzog – zog sie sie an sich. »Ich habe gedacht, ich schaffe das allein. Du musst mir nur glauben, dass ich dich über alles liebe und dass sich daran nie etwas ändern wird.«
»Das weiß ich doch, Mama.« Amélie erwiderte die Zärtlichkeit und streichelte ihrer Mutter über den Handrücken. »Komm, lass uns zu Walter zurückgehen. Ich habe nicht mehr viel Zeit, um meinen Vater kennenzulernen.«
»Ich glaube, er schläft jetzt. Lassen wir ihn erst einmal in Ruhe. Heute Abend ist auch noch Gelegenheit.«
»Heute und die nächsten Tage. Ich bleibe über die Feiertage hier.«
Klotho blickte zur Seite, sodass ihre Tochter nicht sehen konnte, dass sie lächelte. Ein glückliches Lächeln.
Kapitel 1. Mike und Maurice (25.02.2018)
»Hast du eigentlich immer noch diese Tagträume?«
Maurice lag neben seinem Freund auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Im Webradio liefen Chansons.
Mike las in einem Buch von Frank Schätzing, das ihn ziemlich absorbierte, denn es dauerte ein wenig, bis er antwortete:
»Selten, aber sie sind nie ganz weg. Gestern Abend habe ich mich auf einmal wieder an meine Studentenzeit in Bielefeld erinnert und bin erst nach ein paar Minuten wieder in die Realität zurückgekehrt.«
»Bielefeld? Kenn ich nicht.«
»Da hast du nichts verpasst. Sogar die Deutschen sagen im Scherz, dass es diese Stadt gar nicht gibt.«
»Wie bist du eigentlich nach Paris gekommen?«
»Es war ein deutsch-französisches Studium. Die erste Hälfte in Deutschland, den Rest in Paris.«
»Dieses Bielefeld liegt also in Deutschland?«
Mike warf seinem Freund einen scharfen Blick zu, doch dessen Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, wie er das meinte.
»Du verarschst mich gerade, oder?«
»Ja.«
Mike legte sein Buch beiseite, drehte sich zu seinem Freund und umarmte ihn zärtlich. Der ließ sich das knurrend gefallen.
»Weißt du, dass mir deine Wohnung richtig gut gefällt?«, sagte Mike. »Ich habe mich gleich in sie verliebt, als du nach dem Messerstich im Krankenhaus lagst und ich deine Blumen gegossen habe.«
»Sie ist größer als deine«, erwiderte Maurice. »Das ist nen Vorteil. Aber manchmal wird es mir zu eng. Dann bin ich froh, wenn du unter der Woche wieder in deine Wohnung zurückfährst und ich meine Ruhe habe. Außerdem gefällt mir die Gegend nicht mehr.«
Sein Freund nickte. Maurice’ Wohnung lag im neunzehnten Arrondissement im Norden von Paris und grenzte an die Banlieue, die Vorstadt. Seit einer heftigen Auseinandersetzung mit Omar, einem der dortigen Bandenchefs, verließ er die Wohnung eigentlich nur noch, um ins Zentrum zu fahren, und ließ sich im Viertel kaum noch blicken. Nur die Wochenenden verbrachten sie in letzter Zeit meist gemeinsam hier, denn Mikes Apartment im Marais war auf Dauer zu klein für zwei Personen.
»Vielleicht sollten wir uns eine größere Wohnung suchen.«
»Du verarschst mich.«
Maurice zeigte seine Gefühle nur ungern und setzte selbst seinem Freund gegenüber oft ein Pokerface auf.
»Nein!« Mike richtete sich ein wenig auf und stützte sich auf die Ellbogen. »Ich träume sogar manchmal nachts davon, dass wir zwei zusammenwohnen. Wäre das so schlimm?«
»Weiß nicht.«
Immerhin bügelte Maurice das Thema nicht gleich in seiner schroffen Art ab. Das zeigte Mike, dass er sich auch schon mit dem Gedanken beschäftigt hatte.
»Hast recht, es läuft in letzter Zeit gut mit uns«, stellte Maurice nach kurzem Überlegen fest. »Als wir zusammen auf der Insel Urlaub gemacht haben, dachte ich zwischendurch, wir sehen uns danach nie wieder.«
»Ja, aber dann haben wir doch den Dreh bekommen. Ich glaube, jeder braucht einfach genug Raum für sich, wo er sich austoben kann und wo wir uns auch mal aus dem Weg gehen können, wenn es mal nicht so läuft oder einer eine Auszeit braucht. Dann könnte es klappen.«
»Ich denk drüber nach.«
»Soll ich in den nächsten Wochen mal auf die Suche gehen?«
»Ich denk drüber nach!«
Mike kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er das Thema erst einmal nicht wieder anschneiden durfte. Aber er fand, dass es besser lief, als er erwartet hatte. Und Maurice vergaß so etwas nicht. Irgendwann würde er es von sich aus zur Sprache bringen, und dann konnten sie weitersehen. Bei den Mieten in Paris würden sie ohnehin mit spitzem Bleistift rechnen müssen, wenn sie eine größere Wohnung suchten.
Lächelnd legte er sich wieder auf den Rücken und nahm sein Buch zur Hand.
Lange konnte er aber nicht weiterlesen.
»Diese rechte Schmierseite ist nicht gut auf euren Verlag zu sprechen. Gabriel sagt, die hetzen nicht nur gegen die Stadtverwaltung, sondern auch gegen linke Pseudowissenschaftler. Damit meinen sie euch.«
»Damit kann ich leben.« Mike blickte von seinem Buch auf, wirkte aber nicht sonderlich beunruhigt. »Wir haben letztes Jahr mit einigen Artikeln klar Stellung gegen eine ihrer populistischen Kampagnen bezogen.«
Mike arbeitete als Redaktionsleiter beim Magazine de la Science, einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift. Mit Hilfe von Informationen der Gruppe Moíra war es ihnen gelungen, zahlreiche wissenschaftliche Studien als Fälschungen zu entlarven. Der Boulevard Atlantique, ein rechtspopulistisches Nachrichtenportal, wollte diese in großem Stil herausbringen und fiel dank Mikes Enthüllungsartikel damit auf die Nase.
»Wenn sie eine Chance sehen, euch ans Bein zu pinkeln, werden sie die nutzen.«
Mike zog erst die Augenbrauen hoch. Dann grinste er.
»Um in deiner Diktion zu bleiben: Was kümmert es den Baum, wenn sich eine Wildsau daran scheuert?«
»Diktion? Rede verständlich mit mir!«
»Entschuldigung. Ich meinte die Ausdrucksweise.«
»Du musst sie trotzdem ernst nehmen.«
»Ich weiß, dass sie Verbindungen bis weit in die politische Mitte besitzen. Ich denke inzwischen, dass der Hedgefonds, der die Zeitschrift letztes Jahr zwischenzeitlich übernommen hatte, auch aus dieser Ecke kam. Nachdem wir ihn wieder aus dem Verlag gedrängt hatten, haben mehrere Firmen ihre Anzeigen bei uns gekündigt. Dank der Hilfe von Moíra konnten wir das auffangen, aber das Signal, dass wir aufpassen müssen, ist klar.«
»Der Untersuchungsrichter ist immer noch besorgt, dass dieser Geheimbund euch beeinflusst. Auch Lefebvre ist nicht gut auf sie zu sprechen.«
»Sie liefern uns wirklich nur Artikel. Du musst mir glauben, dass von dieser Seite keine Gefahr droht.«
»Du sagst mir nicht alles«, stellte Maurice lakonisch fest.
»Gleichfalls«, kam die trockene Antwort. »Nicht nur du musst Stillschweigen bewahren, wenn ihr bei der Kriminalpolizei einen Fall aufklären wollt. Auch ich darf nicht über alle Firmeninterna reden. Bisher sind wir auf dieser Basis doch immer gut miteinander ausgekommen.«
Maurice nickte und schwieg. Zufrieden wirkte er nicht, denn er nahm die Arme hinter seinem Kopf hervor und setzte sich murrend auf die Bettkante.
Kapitel 2. Oleg (26.02.2018)
»Großvaters Verfügung für diesen Fall lässt keinen Spielraum für Interpretationen.«
»Das sehe ich auch so.«
Die beiden Männer, die sich auf Russisch unterhielten, standen am Krankenbett eines hochbetagten Mannes. Die Monitore am Kopfende zeigten eine Reihe von Vitalwerten an. Spritzenautomaten surrten und ein Bündel von Schläuchen führte dem Patienten Medikamente und Nährstoffe zu.
Verkrampft lag er unter einer dünnen Decke. Zu keinem Zeitpunkt seines langen Lebens konnte man ihn als dick oder auch nur wohlgenährt bezeichnen. Doch jetzt bestand sein Körper nur noch aus Haut und Knochen. Der Kopf ähnelte mehr einem Totenschädel als einem lebendigen Wesen und die milchblauen Augen, vor deren Blick einst Konzernchefs und Präsidenten gezittert hatten, waren geschlossen.
»Der Arzt sagt, er wird nicht mehr aufwachen. Das bedeutet, dass ich ab sofort die operative Leitung des Konsortiums übernehme. Bereiten Sie die nötigen Papiere vor. Wir wollen keine Zeit verlieren. Ich möchte vermeiden, dass unter den Mitgliedsorganisationen Unruhe wegen der Nachfolge entsteht.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Lassen Sie mich jetzt bitte allein, Juri. Ich will mich verabschieden.«
»Jawohl!« Der ältere Mann hob die Hand, als wollte er salutieren, brach die Geste jedoch ab und entfernte sich wortlos. Schon in der Tür zückte er sein Handy und tippte die erste Nachricht.
Der Jüngere holte sich einen Hocker heran und setzte sich an eine Seite des Bettes. Er nahm die Hand des Kranken und legte sie zwischen seine eigenen. Kalt fühlte sie sich an. Die Kälte des nahen Todes. Bis zuletzt hatte er sich an das Leben geklammert und darauf bestanden, die Geschäfte selbst weiterzuführen.
Oleg erinnerte sich an die regelmäßigen Diskussionen, die der alte Mann mit seinen Pflegern um eine Erhöhung der Schmerzmitteldosis geführt hatte. Nur damit konnte er überhaupt noch am Leben teilnehmen. Vor einigen Tagen war er aber dann doch zusammengebrochen und lag seitdem im Koma. Zu lange hatte er seinen Körper geschunden, um noch eine Woche, einen Tag, eine Stunde mehr herauszuholen. Jetzt waren auch seine letzten Reserven aufgebraucht.
Wie kein anderer vor ihm hatte er dem Konsortium, einem weltweiten Zusammenschluss finanzstarker Unternehmen mit anderen, mehr oder weniger geheimen Organisationen, in den letzten Jahrzehnten seinen Stempel aufgedrückt. Mit unnachgiebiger Härte hatte er die Gruppe durch die Wirren der Jahrzehnte nach Gorbatschow und Reagan geführt und zu einem Machtfaktor in der Weltpolitik gemacht, an dem kein Herrscher und keine Regierung vorbeikam.
Von der Öffentlichkeit blieb dies weitgehend unbemerkt. Der Alte, wie ihn seine Untergebenen mehr angst- als respektvoll nannten, hatte alle Fäden im Hintergrund gezogen.
Jetzt war es Zeit für ihn, abzutreten.
Schon seit einigen Jahren hatte er seinen Enkel in die Leitung der Geschäfte mit einbezogen und er, Oleg Fjodorowitsch Melnikow, fühlte sich bereit. Niemand würde seine Ansprüche bestreiten.
»Machs gut, Großvater«, flüsterte er und drückte die knochige Hand, die unter der Decke hervorlugte. »Du wärst nicht einverstanden mit dem, was ich jetzt tue, aber du hast deine Schmerzen lange genug ertragen.«
Ein tiefer, stöhnender Atemzug kam als Antwort und ein Zittern lief durch den ausgezehrten Körper.
Oleg erhob sich und verließ das Krankenzimmer.
Draußen wartete ein Arzt auf ihn.
»Schalten Sie bitte seine Ernährung ab und geben Sie ihm genügend Schmerzmittel. Ich will nicht, dass er leidet. Jetzt nicht mehr.«
Kapitel 3. Logan (So. 04.03.2018)
Eine dampfende Portion Toad in the Hole hatte er sich auf den Teller geladen. Logan hatte sich an seinem Lieblingslieferdienst für einige Zeit sattgegessen und kochte daher wieder selbst.
Während er aß, verfolgte er die Nachrichten. Ein Reporter berichtete ausführlich über einen russischen Dissidenten und seine Tochter, die tagsüber bewusstlos auf einer Parkbank in Salisbury gefunden worden waren. Noch wusste niemand genau, was passiert war, aber der Name Sergei Skripal machte das Ereignis zu einer Schlagzeile. Stockend gab ein Wissenschaftler Auskunft über ein möglicherweise verwendetes Gift und ein Korrespondent von irgendwo berichtete über das, was man derzeit über russische Verschwörungen zu wissen glaubte.
Logan ließ das kalt. In den nächsten Tagen würde sich alles zu einem Bild sortieren.
Unter der Woche verbrachte er die meiste Zeit bei der Datenanalysefirma, wo er ein Praktikum ergattert hatte. Am St. John’s College besuchte er nur noch wenige Vorlesungen, denn sein Studium hatte er fast beendet. Zweiwöchentlich fuhr er für ein verlängertes Wochenende zu seiner Freundin Amélie nach Paris; an den anderen Wochenenden besuchte sie ihn meist. So sahen sie sich regelmäßig, obwohl Logan beschlossen hatte, zunächst in Cambridge zu bleiben und sein Studium zu beenden.
Nur an diesem Wochenende konnten sie sich nicht sehen, denn seine Freundin musste gestern zu einer Testamentseröffnung in Paris. Professor Stein, den er nur aus ihren Berichten kannte, war Ende Februar gestorben und anscheinend war er Amélies Vater. Das bisschen, das sie ihm dazu anvertraut hatte, ließ aus seiner Sicht Fragen offen. Überhaupt wußte er bisher erstaunlich wenig über ihre Familie. Offenbar musste er sich bei ihr erkundigen, wenn sie ihm von sich aus nichts erzählte.
Ich wünschte mir so sehr, sie wäre jetzt hier! Heute würde ich sie bestimmt alles fragen.
Nach dem Essen war er durstig. Zu viel Salz in der Kröte und ein verliebter Koch, dachte er und holte sich ein Glas Wasser aus der Küche. Seinen Durst stillte das jedoch nicht, und so beschloss er, in einen Pub zu gehen. Er zog sich um und stapfte dann die Treppen hinunter zum Ausgang der Wohnanlage.
Vor einer Tür im Erdgeschoss fand er eine volle Plastiktüte. Er warf einen Blick hinein, rümpfte die Nase und lächelte. Misses Cartwright hatte ihren Müll vor die Tür gestellt. Sie war über neunzig, und seit er hier wohnte, erledigte er regelmäßig ihre Besorgungen, kaufte für sie ein und erklärte ihr wöchentlich die Kontoauszüge. So nahm er den Beutel und schmiss ihn in den Container vor dem Haus.
Als er die Apartmentanlage Pinehurst verließ, peitschte ein böiger Westwind feinen Nieselregen übers Land. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und machte sich auf den Weg zur King’s Parade. In die Pubs dort gingen die Leute, die er kannte.
Der Regen fiel so fein, dass man ihn in den Straßenlaternen nicht erkannte. Nur wenn er mit der Hand den direkten Laternenschein vor den Augen abdunkelte, sah er die Tröpfchenschwaden im Halo der Lampen vorbeiziehen.
Sein Smartphone klingelte. Er zog es aus der Jackentasche und nahm den Anruf entgegen, ohne aufs Display zu schauen: »Hallo?«
»Rate mal, wer da ist?«
Die vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung brachte ihn zum Schmunzeln.
»Lassen Sie mich raten, Ma’am«, antwortete er und bemühte sich um einen besonders breiten schottischen Akzent. »Sie sind der Lieferdienst, der mich gerade nicht zu Hause angetroffen hat?«
»Blödmann«, kicherte die Stimme. »Ich bin’s, Amélie.«
»Weiß ich doch.« Logan musste lächeln, als stände seine Freundin jetzt neben ihm. »Dich erkenne ich schon am Klingeln.«
»Wo bist du? Hört sich an, als wärst du draußen.«
»Ich bin unterwegs zu einem Pub. Mir ist langweilig.«
»Da wäre ich so gern dabei! Ich brüte immer noch über Vaters Testament und kann es nicht fassen, dass ich dieses riesige Haus geerbt habe.«
»Hat er dir nichts davon gesagt, als du ihn vor Weihnachten besucht hast?«
»Nein. Mama wusste es, aber sie hat wieder nichts erzählt.«
»Kann es sein, dass ihr alle etwas wenig miteinander redet?«, fragte Logan konsterniert.
Kurze Zeit blieb es still am Telefon. »Das ist eines der größeren Mankos in meiner Familie«, antwortete Amélie dann gedehnt. »Aber lass uns darüber bitte nicht am Telefon sprechen.«
»In Ordnung. Aber als Hausbesitzerin in Paris bist du jetzt eine heiße Partie. Willst du dann überhaupt noch mich, den armen Studenten?«, überspielte Logan seine Frage, die offensichtlich unangenehm für seine Freundin gewesen war.
»Natürlich will ich Dich! Zum ersten Mal in meinem Leben läuft wirklich alles richtig!«
Logan lächelte glücklich. »Ich vermisse dich. Ich würde jetzt auch viel lieber mit dir ausgehen.«
»Keine Sorge, wir sehen uns bald wieder häufiger. Vielleicht kann ich sogar eine Woche bei dir bleiben. In dem leeren Haus fühle ich mich, als ob mein Vater ständig hinter jeder Ecke lauert.«
»Das wäre toll. Wir könnten unseren Aufenthalt in Schottland am kommenden Wochenende verlängern. Was meinst du? Bei uns wird eine Goldene Hochzeit gefeiert. Du wirst viele Leute kennenlernen, die mir wichtig sind.«
Amélie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Logan blieb stehen und wartete gespannt.
»Darauf freue ich mich. Das geht bestimmt. Vielleicht verstehe ich danach besser, wie ihr Kerrs so tickt.«
»So schlimm ist es nicht. Wenn wir jemanden mögen, dann richtig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass dich jemand nicht mag.«
»Keine böse Schwiegermutter?«
»Schwiegermutter setzt voraus … möchtest du …« Logan rang nach den richtigen Worten, »dass ich dir … einen Antrag mache, so richtig formell, auf Knien und so?«
Stille in der Leitung. Logan befürchtete, sich im Ton vergriffen zu haben, und wollte seine Bemerkung schon als Scherz relativieren. Da antwortete Amélie:
»Ein Antrag? Du gehst ja ran! Wobei … wenn ich es recht besehe, denke ich darüber auch schon eine Weile nach.«
»Ein Glück.« Logan fiel ein Stein vom Herzen. »Ich hatte schon Angst, wir hätten uns falsch verstanden. Dann verloben wir uns also demnächst?«
»Ja, es wird Zeit. Du hast mich im letzten Jahr sehr glücklich gemacht.«
»Dito!« Sein Herz machte einen Hüpfer. »Darf ich dann also ankündigen, dass wir zusammen erscheinen?«
»Natürlich! Soll ich uns ein Hotelzimmer buchen?«
»Das brauchst du nicht. Wir fahren erst nach Perth und übernachten bei Mutter. In meinem alten Kinderzimmer steht jetzt ein französisches Bett. Dann reisen wir in die Highlands. Die Feier findet auf dem Gutshof meines Großonkels statt. Dort gibt es genügend Zimmer für alle.«
»Bei deinem Hang zu Untertreibungen bedeutet Gutshof vermutlich, dass er ein Schloss besitzt.«
Logan war froh, dass Amélie jetzt nicht sehen konnte, wie er errötete. »Du glaubst nicht, wie ich mich freue«, wich er aus.
»Ich doch auch! Weißt Du, da ist nämlich noch etwas, was ich Dir unbedingt erzählen muß. Ich … Wir …«
»Ja?«, fragte Logan, als seine Freundin ihren begonnenen Satz nicht zu Ende brachte.
»Oh, es klingelt. Da kommt mein Essen. Wir reden später, okay?«
»Klar doch!«
Logan verabschiedete sich, legte auf und setzte seinen Weg fort. Bald schon lief er durch die Trumpington Street und erblickte vor sich die Lichter der Läden in der King’s Parade.
Er betrat gleich den ersten Pub an einer Straßenecke. Vor dem Tresen reihten sich Gäste und es dauerte ein wenig, bis er sich mit einem Lager versorgen konnte. Mit seinem Getränk in der Hand schlenderte er durch die Tische und entschied, sich nicht zu den College-Kommilitonen zu setzen, sondern zu Rashid, einem der IT-Betreuer seines Praktikums.
Er hatte sich mit ihm schon mehrfach und länger unterhalten. Rashid war im Gegensatz zu manchen Berufskollegen kein Nerd und kannte durchaus andere Gesprächsthemen als Serverkonfigurationen und Netzwerkroutinen. In seinen wachen, braunen Knopfaugen saß schnell der Schalk, wenn er Zweifel an der Auffassungsgabe seines Gegenübers bekam.
Heute wirkte er aber nicht, als fände er etwas lustig. Um seine Augen lagen Schatten und die Brauen hatte er so tief gezogen, dass er gerade noch darunter hervor gucken konnte.
»Kommst du von der Arbeit? Du siehst müde aus«, fragte Logan nach dem Begrüßungshandschlag.
»Ist nur viel zu tun. Das Netz macht Probleme. Wir haben zu viel Traffic für zu wenige Ressourcen.«
»Hoffentlich sind keine Hacker drin«, scherzte Logan.
»Es ist nicht leicht, die Rechner in Schuss zu halten, an denen ihr Praktikanten ab morgen wieder arbeiten sollt. Noch ein paar Jahre und du findest sie im Museum wieder«, sagte Rashid anstelle einer Antwort. Beide lachten, aber Rashid erwiderte Logans Blick nicht und schien gedanklich mit etwas anderem beschäftigt zu sein.
»Störe ich?«
»Nein, nein, es ist nur gerade alles nicht einfach. Der Teamleiter gibt manchmal komische Anweisungen, aber das soll dich nicht belasten.«
Logan nickte. Er hatte einige der Teamleiter bei seiner Einstellung kurz gesehen und empfand sie als ziemlich unzugänglich. Keine Sympathieträger, mit denen man sich gerne verbrüderte.
»Falls du Hilfe brauchst … du weißt ja, was ich kann und was nicht.«
»Die Art Hilfe benötige ich nicht, aber vielleicht brauche ich die Tage mal jemanden zum Reden. Du hast eine freundliche Seele. Meine Familie erkennt so etwas sofort.«
Logan lächelte überrascht. Dann zog er sein Handy und öffnete eine SMS.
»Gib mir deine Nummer.« Er tippte die Zahlen in das Adressfeld, schrieb ‘Ich bin Logan Kerr’ in die Nachricht und schickte sie an Rashid. Der öffnete sie und lächelte ebenfalls. Ein kurzer Fingerwirbel auf dem Display und Logans Handy pingte ebenfalls. ‘Danke. Rashid Anand’. Beide lächelten und steckten ihre Telefone wieder ein.
»Das ist doch ein Scherz mit der Seele, oder?«, fragte Logan unsicher.
»Jein. Meine Familie ist kastenlos. Für uns ist es auch heute noch überlebenswichtig, sofort einschätzen zu können, wie jemand drauf ist und wie etwas gemeint ist.«
Logan verstand. Im letzten Jahr war er mehrfach unsanft darauf gestoßen, dass er mit seinem Wissen in vielen Bereichen erst an der Oberfläche kratzte. Ein Kampf weltumspannender Geheimorganisationen um ein geöffnetes Dimensionsportal mit spukhaften Fernwirkungen hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Die Welt voller Wunder, die sich ihm offenbart hatte, war komplexer, als er gedacht hatte. So nahm er Rashids treffsichere Intuition nur als eine weitere von vielen Besonderheiten hin.
Kapitel 4. Paolo (04.03.2018)
Jeden anderen hätte dieser schnelle Schlag ins Land der Träume befördert. Dennoch tauchte Paolo beinahe elegant darunter hinweg und stand Sekundenbruchteile später hinter seinem Gegner. Der fuhr herum und schlug erneut zu. Paolo parierte mit dem Unterarm und lenkte den Schlag knapp an seinem Kopf vorbei.
Mit einem Judogriff nutzte er den Schwung seines Gegners aus und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Ein Tritt gegen die Kniescheibe und er flog krachend zu Boden und landete auf dem Rücken. Paolo kniete sich über ihn und setzte ihn mit zwei gezielten Handkantenschlägen gegen die Halsschlagadern außer Gefecht.
Langsam richtete er sich wieder auf, kaum außer Atem. Der andere würde einige Zeit benötigen, um sich zu erholen.
»Gut gemacht. Du hast meinen besten Mann besiegt. Und du hast deine Gabe nicht mal eingesetzt.«
Ángel, der den Kampf aus einigen Metern Entfernung verfolgt hatte, trat an Paolo heran und wollte ihm mit seiner Pranke auf die Schulter schlagen. Mit einer neuen, schnellen Bewegung wich der ihm aus und brachte seinen Trainer so ebenfalls aus dem Gleichgewicht.
»Treib es nicht zu weit.« Das sollte bedrohlich klingen, aber Ángels Augen lachten dabei, etwas, das man bei ihm sehr selten sah. Fast konnte man glauben, dass er den hochgewachsenen jungen Mann mit den strahlend blauen Augen mochte. »Du hast sie doch nicht eingesetzt, oder?«
»Frag ihn selbst, wenn er wieder wach ist.« Paolo brauchte seine besonderen Fähigkeiten nicht mehr. Die Fähigkeiten, wegen derer er sich hier aufhielt. Es genügte ihm, dass er die Absichten seines Gegners einen Sekundenbruchteil vorher erkannte. »Er hat gut gekämpft.«
»Ich kann dir nichts mehr beibringen. Nur ein bedeutsames Manko hast du noch.«
»Welches?« Verwirrt blickte Paolo auf.
»Lerne Spanisch, oder wenigstens Englisch. Mein Deutsch ist besser geworden.« Paolo nickte. »Aber diese Worte sind Folter für meine Stimme.«
»Lo intentaré. Lo prometo.«
»Du mich auch.«
»Bring mir lieber mehr über Geschichte bei. Cédric hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, die Vergangenheit zu kennen.«
Cédric, Paolos einziger Freund, war viel zu früh in einer ebenso grausamen wie sinnlosen Auseinandersetzung gestorben. Vielleicht hätte er ihn sogar lieben können, doch das Schicksal hatte ihnen diese Chance verwehrt. Er konnte froh sein, selbst mit dem nackten Leben davongekommen zu sein.
Ángel hatte ihn seinerzeit gerettet, den Bewusstlosen einfach über die Schulter geworfen und hierher gebracht. Zwei Monate lang hatte Paolo fiebernd und fantasierend im Hospital gelegen. Der Entzug brachte ihn beinahe um. Erst nach und nach funktionierten seine Organe wieder richtig.
Sobald er aufstehen konnte, begannen Ángel und seine Leute mit dem Training, um die letzten Reste der Chemikalien aus seinem Körper zu vertreiben.
Jetzt fühlte er sich wieder so kräftig und beweglich wie früher und langsam fragte er sich, warum er hier war. Wo er sich derzeit aufhielt, spielte für ihn keine Rolle. Er hätte sowieso nicht gewusst, dass es ein Land namens Chile gab und wo es lag. Der Schulunterricht in den Heimen, in denen er einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte, verdiente diesen Namen nicht.
Ángel konnte mit seiner Bitte nichts anfangen. »Ich kann dir zeigen, wie man kämpft oder wie man einen Computer bedient. Geschichte habe ich auch nie gelernt. Frag Klotho, ob sie einen Lehrer für dich hat, wenn du das wirklich willst. Sie kann dir helfen.«
Paolo hatte Klotho einige Male kurz gesehen. Sie hatte an seinem Bett gestanden, als er zum ersten Mal wieder aus dem künstlichen Koma erwacht war, in das man ihn versetzt hatte. Sie schien hier alles zu kontrollieren. Wenn es um sie ging, empfing er von allen nur Gefühle wie Respekt und Hochachtung.
»Weißt du, was sie mit mir vorhat?« Seltsam, dass ihm diese Frage erst jetzt einfiel.
»Nein. Sie weiht uns nicht in alles ein. Sie will uns schützen.«
»Kann ich mit ihr reden?«
»Ich werde es ihr sagen.«
Klotho hatte tatsächlich Zeit für ihn. Sogar derart schnell, dass er sich fragte, ob sie nur auf seine Bitte gewartet hatte. Schon am Nachmittag holte Ángel ihn aus dem Zimmer, in dem er seine Zeit verbrachte, wenn er nicht trainierte.
Klotho begrüßte ihn im Garten ihres Bungalows.
»Paolo, ich freue mich, Sie zu sehen. Bitte setzen Sie sich.«
Sie deutete auf einen Stuhl, der ungewöhnlich weit von ihr weggerückt war. Hier draußen im Sonnenschein wirkte die schlanke Frau mit den kurzen, weißen Haaren älter, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, irgendwie zerbrechlich. Aber das lag sicher daran, dass er sie auch im Sitzen um einen Kopf überragte.
Sie musterte ihn so durchdringend, dass er sich fragte, ob sie vielleicht auch seine Gabe besaß.
Ángel hielt sich im Hintergrund und schaffte es, ungeachtet seiner eher kompakten Statur beinahe unsichtbar zu werden.
»Sie haben sich gut gemacht, Paolo. Ángel sagt, Sie wären völlig wiederhergestellt.«
Erst jetzt begriff Paolo, was ihn an ihren Worten irritierte. Sie sprach Deutsch mit ihm und ihr Deutsch war ausgezeichnet! Ángel strengte sich zwar an, aber das hörte man auch bei jedem Wort, das er sprach.
»Ich fühle mich gesund und einsatzbereit. Wofür auch immer, Frau … Klotho.«
»Nennen Sie mich einfach Klotho. Das tun hier alle. Meinen Nachnamen können Sie sowieso nicht aussprechen.« Sie lächelte ihn dabei an und gab ihm damit das Gefühl, hier willkommen zu sein. »Ángel sagt, Sie benötigen einen Lehrer?«
»Ich möchte gerne lernen. Ich weiß so wenig über die Welt. Wo ich herkomme, hat man sich nur für meine Fähigkeiten interessiert, nicht für mich.«
»Ich verstehe. Natürlich sind Sie wegen Ihrer Fähigkeiten hier, das muss ich zugeben. Ich schätze, ich könnte Sie sowieso nicht anlügen.« Wieder dieses Lächeln, bei dem er sich wohl fühlte. »Aber ich finde, wir sollten zuerst schauen, was wir tun können, um Ihnen zu helfen. Alles andere wäre unfair.«
»Danke, dass Sie das so sehen.«
Auch Paolo versuchte ein Lächeln, das aber weniger selbstverständlich wirkte als bei Klotho. Früher hatte er es nicht auf solche Details achten müssen. Die Droge, die er genommen hatte, hatte seine Sinne so sehr geschärft, dass er automatisch die richtigen Worte gefunden hatte.
»Es ist leider so, dass Ángel und ich außer den deutschen Söldnern die einzigen Personen hier sind, die Ihre Sprache sprechen. Deswegen kann ich Ihnen leider kurzfristig keinen Lehrer besorgen. Wie gut können Sie lesen?«
»Geht so. Einige Sätze sind okay, aber mit längeren Texten habe ich Probleme.«
»Gut, dann müssen wir auch an Ihrer Lesekompetenz arbeiten. Solange Sie hier sind, kümmere ich mich darum, dass Sie lernen können, was immer Sie wollen.«
Paolos Lächeln geriet jetzt wesentlich natürlicher, denn er fühlte sich wirklich erleichtert.
»Wir machen Folgendes: Ich lasse Ihnen Unterrichtssendungen in Ihrer Sprache herunterladen, die Sie sich ansehen werden. Sie interessieren sich für Geschichte, hat Ángel gesagt?«
»Ja, Geschichte muss wichtig sein. Ich will verstehen, warum Menschen manchmal so sind, wie sie sind.«
Paolo erinnerte sich nur ungern an eine Situation, die ihm aus dem Ruder gelaufen war, weil er nicht verstanden hatte, wie sein Gegenüber tickte. Cédric hatte ihn damals gerettet und ihm hinterher erklärt, dass der Mann ein Nazi gewesen sei und dass es wegen solcher Leute vor langer Zeit einen Weltkrieg gegeben habe.
»Sie werden mehr als nur Geschichte lernen müssen, fürchte ich, aber wir werden dort einen Schwerpunkt setzen. Sie bekommen außerdem begleitende Texte zu den Sendungen, die Sie bitte versuchen, durchzulesen, auch wenn Ihnen das am Anfang schwerfallen wird. Ich möchte außerdem, dass Sie Erdkunde lernen. Ohne sie funktioniert Geschichte nämlich nicht. Alles andere hängt davon ab, wie schnell Sie lernen.«
»Danke … Klotho. Sie sagten vorhin: solange ich hier bin. Warum bin ich denn hier?«
»Zunächst einmal sind Sie hier, weil Sie an dem Ort, von dem Sie gekommen sind, gestorben wären. Der Platz hier, den wir Die Kolonie nennen, ist nämlich in erster Linie eine Zuflucht. Zweitens sind Sie hier, weil Sie mit den Fähigkeiten, die Sie besitzen sollen, helfen können, diesen Zufluchtsort zu beschützen. Es gibt anderswo auf der Welt viele Menschen, mächtige Menschen, die unsere Kolonie finden und zerstören wollen.«
»Ich will Ihnen gerne helfen, wenn ich das kann.«
»Dazu muss ich mehr über Sie wissen. Ángel sagt, dass Sie in Deutschland empathische und vielleicht sogar telepathische Anlagen besaßen. Allerdings standen Sie damals auch unter dem Einfluss eines Medikaments, das Ihre Fähigkeiten verstärkt oder sogar erst verursacht hat. Was können Sie jetzt noch, nachdem Sie clean sind?«
»Angelo sagt, die Droge hätte mich beinahe umgebracht.«
Paolo konnte den Namen inzwischen ebenso gut aussprechen wie ein Spanier. Dennoch hielt er an Angelo fest. Ángel war einverstanden gewesen, von ihm so genannt zu werden, als sie sich kennengelernt hatten, und Paolo war sich sicher: Es gefiel ihm sogar.
»Er hat recht. Ihr Leben hing zwischendurch am seidenen Faden und wir hätten Sie beinahe verloren.«
»Angelo hat mir verboten, hier irgendjemanden länger zu berühren. So habe ich früher Verbindung zu anderen Menschen aufgenommen. Deshalb kann ich Ihre Frage nur teilweise beantworten. Ganz verschwunden ist meine Gabe jedenfalls nicht. Ich spüre die Gegenwart anderer Leute, wenn ich ihnen nahe genug bin, und kann ihre Gefühle grob einschätzen. Bei Ihnen spüre ich vor allem Einsamkeit und Trauer. Sie haben vor kurzem jemanden verloren. Um mehr zu spüren, müsste ich Sie berühren. Darf ich …?«
»Das kommt nicht in Frage!« Paolo spürte fast körperlich, wie sie zurückwich. »Ihre Auskunft genügt mir.« Ihr durchdringender Blick richtete sich auf Ángel. »Haben Sie ihm etwas über mich erzählt? Irgendetwas?«
»Nein.«
»Okay.« Sie wandte sich wieder Paolo zu: »Es fällt mir schwer, zu glauben, dass Sie das können, aber derzeit habe ich keine bessere Erklärung. Ángel hat gesagt, dass Ihre Fähigkeit auch auf größere Distanz wirkt?«
»Damals stand ich noch unter dem Einfluss der Droge. Momentan reicht sie einige Meter weit. Maximal. Ich weiß mehr, wenn ich wieder jemanden berühren darf.«
»Ich verstehe. Dann müssen wir eine Person finden, die Sie berühren können, ohne das Risiko, dass sie einen Schock fürs Leben bekommt.«
Paolo erzählte ihr nicht, dass er die Stille um sich herum sehr erholsam fand. Früher, als seine Fähigkeiten durch die Droge verstärkt worden waren, war es ihm schwergefallen, sich selbst von der Menge zu isolieren, wenn er sich unter Menschen befunden hatte. Die Gedanken und Gefühle der anderen bildeten ein Netz um ihn herum, in dem er sich regelmäßig mit seinen eigenen Gedanken verfangen hatte. Das hatte ihn enorm angestrengt. Jetzt ging alles viel einfacher.
»Ich mache es.« Ángel hatte sich entschlossen. »Ich weiß, worauf ich mich einlasse, denn du hast mich schon einmal berührt. Versprich mir nur, dass du vorsichtig bist. Ich will nicht Maricón werden.«
»Das wirst Du nicht«, versprach Paolo leise. Fast wirkte er in diesem Augenblick schuldbewusst.
»Er könnte Männer umpolen?«, fragte Klotho ungläubig.
»Ich habe es gesehen.«
Paolo erhob sich und trat auf Ángel zu. »Gib mir deine Hand«, bat er ihn. Der streckte sie zögernd aus. Der breite, starke Mann musste sich dazu überwinden und verkrampfte. Vorsichtig legten sie ihre Hände ineinander. Es dauerte ein paar Sekunden, dann nahmen sie sie wieder auseinander.
»Es ist okay.« Ángel wirkte erleichtert. »Ich spüre zwar etwas, es fühlt sich freundlich an, nein es ist Freundschaft. Kommt das von dir?«
»Ja, das bin ich. Ich mag dich. Nicht sexuell«, fügte er zur Sicherheit hinzu. »Ich spüre deine Gefühle jetzt intensiver als vorher. Ich glaube, ich sollte sie aber nicht benennen. Es war ein Fehler, dass ich das vorhin getan habe«, wandte er sich mit unerwarteter Einsicht an Klotho. »Es tut mir leid.«
»Schon gut. Ich hatte Sie darum gebeten. Ich war nur nicht darauf vorbereitet, dass Sie das wirklich können, was man über Sie sagt.«
»Wenn Sie wissen wollen, wie stark meine Gabe ohne die Droge noch ist, bringen Sie mir einen Mann, mit dem ich Sex haben kann.« Er bemerkte, wie Klotho die Augen erstaunt aufriss und fügte schnell hinzu: »Dafür habe ich damals die Droge erhalten. Ich habe als Escort gearbeitet und viel Geld für meinen Boss verdient.«
Klotho warf einen durchdringenden Blick auf Ángel. »Mir scheint, ich habe über das damalige Projekt noch nicht alles erfahren. Holen Sie das bitte bis morgen nach.«
»Selbstverständlich«, beeilte sich Ángel zu versichern.
Kapitel 5. Mike (05.03.2018)
Sie schliefen aneinander gekuschelt in ihrem Bett in Maurice’ Wohnung. Mike erwachte, als er so etwas wie ein Räuspern hörte. Schlaftrunken richtete er sich auf.
Vor seinem Bett stand eine dunkle Gestalt.
Adrenalin schoß durch Mikes Kreislauf. Ein Einbrecher?
Er rüttelte seinen Freund an der Schulter. Der ließ aber nur ein leises Brummen hören und wälzte sich auf die andere Seite. Angstvoll tastete Mike nach dem Lichtschalter.
Als die Nachttischlampe endlich leuchtete, erkannte er den Schatten.
»Walter!«
Professor Walter Stein trug die gleiche Kleidung wie an jenem Abend, an dem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Der Abend, bevor er Paris verlassen hatte, um in der Anlage seiner Freundin Klotho Papantoniou im chilenischen Hochland seine letzten Wochen zu verleben.
»Um Gottes willen, haben Sie mich erschreckt. Augenblick, Sie sind doch tot! Das verstehe ich nicht.«
»Nur weil wir etwas nicht verstehen, heißt es nicht, dass es göttlich ist. Es bedeutet nur, dass wir es nicht verstehen.«
Diese Art Aphorismen waren typisch für den Professor. Mike beruhigte sich, beugte sich zu Maurice hinüber und stupste ihn an.
»Das ist zwecklos. Er wird nicht aufwachen. Und selbst, wenn Sie es schaffen, könnte er mich nicht sehen. Ich existiere nur in dem Traum, den Sie gerade träumen.«
»Ich träume? Aber das fühlt sich alles so real an!«
»Das tun Träume manchmal. Ich kenne diese Erfahrung bereits. Für Sie ist es heute das erste Mal.«
»Wenn ich träume, dann müsste doch … Moment.«
Mike drehte sich um und sah auf den Radiowecker, der auf Maurice’ Nachttisch stand. 02:30 Uhr. Dann blickte er wieder auf Walter. Der stand noch da. Dann schaute er auf die Uhr: immer noch 02:30 Uhr. Nein, gerade sprang die letzte Ziffer um: 02:31 Uhr. Er nahm das Buch von seinem eigenen Nachttisch: Die Tyrannei des Schmetterlings. Darin hatte er vor dem Einschlafen gelesen.
»Das ist kein Traum«, stellte er dann fest.
»Bevor ich Ihnen erkläre, was Sie gerade erleben, schlage ich vor, dass wir uns von nun an duzen.« Mike nickte zögernd. »Du bist im letzten Jahr mein engster Freund gewesen, fast wie ein Sohn. Nur für Klotho habe ich noch mehr empfunden, aber das … ist kompliziert. Momentan hältst du mich sowieso nur für ein Hirngespinst, also was soll’s?«
Mikes Verwirrung wuchs mit jeder Sekunde. Das konnte kein Traum sein, denn die Ziffern auf dem Wecker änderten sich nicht willkürlich, wenn er sie ein weiteres Mal betrachtete. Andererseits sprach er gerade mit jemandem, der vor knapp zwei Wochen gestorben war. Dass Walter ihn dabei anlächelte, wie ein Grundschullehrer, der einem zurückgebliebenen Schüler etwas Grundlegendes erklärt, machte die Sache nicht besser.
»Wer bist du? Anders gefragt: Was bist du?«
Die Anzeige des Weckers auf Maurice’ Nachttisch sprang auf 02:32 Uhr.
»Ich bin der Walter Stein, den du aus deinen Erinnerungen kennst. Du musst meinen Aufzug entschuldigen. Ich trage nur das, was du mir angezogen hast. Du bist ja auch nicht angemessen gekleidet.«
Mike blickte an sich herunter. Dann fiel ihm ein, dass er ja immer nackt schlief, und reflexartig zog er die Decke etwas höher. Walters Lächeln verwandelte sich in ein heiteres Grinsen, als er das sah.
»Keine Sorge, sogar ich weiß, wie ein anderer Mann aussieht. Ich entdecke an dir nichts Neues.«
»Und wenn … Du hättest dich vorher anmelden müssen. Dann hätte ich mir einen Schlafanzug angezogen. Wobei dann Maurice blöd geguckt hätte.«
»Willst Du wissen, warum ich hier bin?«
»Klar! Vermutlich nicht, um einfach mal ungezwungen über alte Zeiten zu plaudern.«
Mike überlegte, ob es sich bei Walters Auftauchen um eine neue Variation seiner Tagträume handelte, verwarf den Gedanken aber.
»Leider nein. Ich wünschte mir, es wäre anders. Weißt du, vor fast einem Jahr hatte ich mit Martin O’Connor ein sehr ähnliches Gespräch.«
Mike hob die Brauen. »Aber da war der doch schon längst tot!«
»Genau. So wie ich jetzt. Aber er ist in meinen Träumen herumgespukt und hat Dinge gewusst, die er nicht wissen konnte. Er hat es mir damals erklärt.«
»Was? Dass es ein Leben nach dem Tode gibt?«
»So einfach ist das nicht. Wir leben weiter in den Erinnerungen der Menschen, die uns geliebt haben. Aber seit dieses Dimensionstor im CERN geöffnet ist und das andere … Aber das tut noch nichts zur Sache … Seither können wir unter bestimmten Umständen zu diesen Menschen Kontakt aufnehmen. Bei mir sind es leider nur zwei: Klotho und du.«
»Was für Umstände?«
»Ich habe versucht, mit Klotho so zu reden, wie ich es jetzt mit dir tue. Leider ist ihr Geist nicht so offen wie deiner. Sie verleugnet mich.«
»Ich habe Klotho als harte Führungspersönlichkeit erlebt, aber eines ist sie nicht: flexibel. Vielleicht handelt sie nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Eventuell trauert sie auch noch zu stark um Dich. Gib ihr Zeit.«
»Das kann ich leider nicht. Ihr werdet bald vor einer Herausforderung stehen. Ihr würdet sie auch ohne meine Hilfe irgendwie meistern, aber die Möglichkeit, wenigstens einen von euch erreichen zu können, gibt mir das Gefühl, auf meine alten Tage noch etwas bewirken zu können.«
»Du sprichst in Rätseln, aber das ist ja nichts Neues. Auf meine alten Tage klingt übrigens lustig, wenn das ein Toter sagt.«
»Wenn du morgen früh aufwachst, wirst du alles zunächst für einen Traum halten. Du wirst es Maurice erzählen. Er wird dir sagen, dass du beim Abendessen nicht zwei Nachschläge hättest nehmen sollen. Weißt du übrigens, dass es sich total süß anhört, wenn er schnarcht?«
Mike schaute sein Gegenüber ungläubig an. »Du siehst aus wie Walter, aber du benimmst dich nicht wie er.«
»Das scheint eine Nebenwirkung meines jetzigen Zustandes zu sein. Ich bin der Walter, der ich hätte sein können, wenn ich mir nicht zeitlebens selbst Beschränkungen auferlegt hätte. Auch Martin O’Connor verhielt sich mir gegenüber viel offener, als ich ihn in Erinnerung hatte.«
»Muss ich jetzt etwa damit rechnen, dass du dich für den Rest meines Lebens durch meine Träume plauderst? Wie soll ich da zur Ruhe kommen?«
Mikes Blickwinkel auf dieses Erlebnis änderte sich sukzessive. Die Unterhaltung war skurril, aber verdammt noch mal, sie machte auch Spaß.
»Keine Sorge. Heute besuche ich dich nur, um sicherzugehen, dass du mir zuhörst, wenn es soweit ist.«
»Wenn was wie weit ist? Du hast wohl mit dem Orakel von Delphi zu Abend gegessen.«
»Gib es zu: Dafür magst du mich doch!« Walter kicherte unbeherrscht, etwas, das Mike noch nie bei ihm erlebt hatte und das deshalb nicht zu seiner Beruhigung beitrug. »Aber im Ernst: du bist noch nicht bereit, mir zu glauben. Alles hat seine Zeit.«
»Wenn du das sagst …«
»Schlaf dich jetzt erst mal aus. Morgen hast du einen anstrengenden Tag vor dir. Es gibt Ärger in der Redaktion.«
Walter erhob sich und löste sich in einer Nebelwolke auf. Mike sank kopfschüttelnd in die Kissen zurück und schlief den Rest der Nacht traumlos.
Am nächsten Morgen konnte er sich an den Traum in allen Einzelheiten erinnern, was ihm sonst selten passierte. Beim gemeinsamen Frühstück berichtete er Maurice davon.
»Ich bin froh, dass ich nicht mehr träume«, sagte der und stellte seinen Kaffeebecher ab. »Als wir zwei uns kennengelernt haben, haben mich meine Träume ziemlich genervt.«
»Ich erinnere mich«, kommentierte Mike. »Einmal hast du mir deswegen sogar die Freundschaft gekündigt. Mich irritiert nur, wie realistisch der Traum sich angefühlt hat. Ich hätte schwören können, dass ich wach bin.«
»Vielleicht hättest du gestern Abend nicht zweimal Nachschlag nehmen sollen.«
Kapitel 6. Oleg (06.03.2018)
Nur einen Tag, nachdem sein Großvater gestorben war, begannen die Arbeiter, auf einem Friedhof im Norden von Krasnojarsk mit Pressluftbohrern das Grab in den noch vom Winter gefrorenen Boden zu stemmen. Oleg verlor keine Zeit. Es hätte nicht dem Willen des Verstorbenen entsprochen, alles mit wochenlanger Trauer lahmzulegen. Er achtete seine Religion, aber auf eine pragmatische Art. So plante Oleg die orthodoxe Trauerfeier so kurz wie möglich und lud nur den engsten Familienkreis dazu ein.
Für einen Oligarchen verhielt er sich damit sehr ungewöhnlich. Üblicherweise nutzte die gesamte Führungsebene eine Trauerfeier zur Selbstdarstellung. Bei der Größe des Konsortiums hätte Oleg damit mühelos ein Fußballstadion füllen können. Dass er das unterließ, sorgte allseits für Verwunderung, hatte für ihn aber den Vorteil, dass er nur seinen eigenen Sicherheitsdienst zur Absicherung der Veranstaltung einsetzen musste.
Die Wachleute lungerten jetzt zwischen den umstehenden Büschen herum und wirkten so unauffällig wie Nonnen als Linienrichterinnen eines Fußballspiels.
Er würde dafür in den kommenden Monaten auf die eine oder andere Art geradestehen müssen, dass er das Begräbnis und vor allem die anschließende Trauerfeier privat hielt.
Alles konnte er dennoch nicht abbügeln. Seine Mutter und eine Tante bestanden darauf, dass wenigstens eine Rede zu Ehren des Verstorbenen gehalten wurde. Sie hatten dafür extra einen Redenschreiber und einen Trauerredner engagiert, damit alles seiner gesellschaftlichen Bedeutung gerecht wurde.
Nach dem Ende der Gebets- und Weihrauchzeremonie dauerte diese Rede nochmals eine gefühlte Ewigkeit. Die ganze Familie hatte sich um die Grabstelle herum versammelt. Nach einer Viertelstunde setzte Schneeregen ein. Ungeduldig trat Oleg von einem Fuß auf den anderen. Nahm diese Ansprache denn gar kein Ende? Mit einer fahrigen Bewegung nahm er ein angeweichtes Stück Brot vom Tisch mit dem Leichenschmaus, und schluckte es angewidert hinunter.
Langsam wurde nun der glänzend lackierte Sarg an Seilen in die Grube hinabgelassen. Oleg beobachtete den Vorgang genau, denn die vier Träger hatten bereits beim Auszug aus der Kapelle mit dem massiven Eichenmöbel etwas überfordert gewirkt. Der Priester goss währenddessen den Inhalt einer Flasche Weins kreuzförmig über den Sarg. Um ein Haar hätte er dabei auf dem glitschigen Boden das Gleichgewicht verloren und wäre selbst in die Grube gestürzt.
Dann – endlich – endete die Zeremonie mit einem letzten Segen und die Trauergäste zogen geschlossen in Richtung des Hauptweges, der zum Ausgang führte.
Nur Oleg schlug den Mantelkragen hoch, blies seine Kerze aus, legte sie achtlos auf einen Grabstein in der Nähe und bog danach in einen schmalen Weg ab, der zu einem Nebenausgang führte. Dort wartete bereits sein Wagen und er konnte ungesehen von hier verschwinden.
»Sie müssen sich das nicht antun.« Mit diesen Worten wurde unerwartet ein Golfschirm über ihm aufgespannt. Oleg drehte sich um und erblickte ein Gesicht, das ihm vage bekannt vorkam. Es dauerte einen Moment, bis er es einordnen konnte.
»Was macht schon ein bisschen Regen?«, fragte er dann. »Sie sind Pjotr Maksimow?«
»Genau. Wir kennen uns von den Videokonferenzen Ihres werten Großvaters, denen Sie beiwohnen durften. Ich bin der Sektionschef für Europa. Ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Als ich hörte, was geschehen ist, bin ich sofort in den nächsten Flieger gestiegen.«
»Danke.«
Oleg ignorierte die ausgestreckte Hand und fragte sich, wie der Mann es geschafft hatte, an seinen Leuten vorbei auf die private Familienfeier zu gelangen.
»Wir haben uns übrigens bereits während Ihres Studiums in Cambridge kennen gelernt. Sie haben einige meiner Vorlesungen besucht. Mittlerweile finde ich dafür leider keine Zeit mehr, weil die Leitung meiner Firmen und die Arbeit für das Konsortium mich voll in Anspruch nehmen.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist lange her. Ich erinnere mich nicht.«
Oleg versuchte, möglichst abweisend zu klingen, denn er empfand das Gespräch zum jetzigen Zeitpunkt als anstrengend.
»Das macht doch nichts!« Unglücklicherweise kam seine Botschaft nicht an. »Wir können in den nächsten Monaten sicher unsere alte Freundschaft wiederauffrischen. Sie brauchen meine Hilfe bei der Leitung des Konsortiums und ich habe eine Reihe von profitablen Ideen, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte.«
»Hat das nicht Zeit? Heute ist ein Tag der Trauer und des Gedenkens.«
»Ihr Großvater hätte das möglicherweise anders gesehen.«
Besass dieser Mensch überhaupt kein Feingefühl? Dann musste er auch keines zeigen.
»Möglicherweise hätte er das«, erwiderte er darum schroff. »Mein Großvater ist aber nicht hier. Lassen Sie sich bitte in der nächsten Woche von meiner Assistentin einen Termin geben. Dann können wir über alles reden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.«
Oleg schob den Schirm beiseite, ließ seinen Gesprächspartner stehen und eilte zum Seitenausgang. In Gedanken setzte er einen neuen Punkt auf seine Agenda für die nächsten Wochen: Informationen über die anderen Entscheidungsträger im Konsortium einholen. Er hätte das schon vor Monaten tun müssen, sobald sich die Entwicklung abgezeichnet hatte. Vor allem Maksimow hätte er genau unter die Lupe nehmen müssen.
Er verließ den Friedhof. Vor dem Seitenausgang parkte, wie verabredet, seine Limousine. Ein Mitarbeiter öffnete ihm die Tür und er stieg ein.
»Zum Landeplatz«, wies er den Fahrer an. »Geben Sie Bescheid, dass der NH90 startklar gemacht wird.«
Er schrieb eine Nachricht an den Inhaber des Restaurants, zu dem der Rest seiner Familie unterwegs war und bat darum, ihn mit unaufschiebbaren, dringenden Geschäften zu entschuldigen. Das bevorstehende familiäre Beisammensein würde ohne ihn stattfinden. Zu viele Familienmitglieder ertränkten regelmäßig ihren Kummer – ob echt oder vorgetäuscht – in Wodka.
Einem guten Wein oder auch einem Obstler war er nicht abgeneigt, aber diese Gelage ekelten ihn an, seit ihn einer seiner Onkel bei einer Familienfeier mit Wodka abgefüllt hatte. Nach dem ersten Glas hatte er sich ausgezeichnet und sehr erwachsen gefühlt. Nach mehreren weiteren Gläsern hatte aber seine Erinnerung ausgesetzt und er bekam auch später nicht mehr zusammen, was an jenem Abend geschehen war. Erst am nächsten Tag war er wieder zu sich gekommen und hatte es gerade noch bis ins Bad geschafft, bevor er sich übergeben musste.
Seine Mutter hatte ihm als Erstes eine Standpauke gehalten. Danach fragte sie ihn aus. Als Nächstes hielt sie seinem Vater eine Standpauke. Die lauten Stimmen drohten, seinen Kopf zum Platzen zu bringen. Er fühlte sich tagelang so schlecht, dass er sich zunächst schwor, im Leben nie mehr einen Tropfen Alkohol anzurühren.
Ganz so genau nahm er seinen Schwur später nicht mehr, aber er wusste seitdem präzise, wann er mit Trinken aufhören musste.
Nur Wodka rührte er nie wieder an.
Zu seinem Großvater hielt er seit diesem Erlebnis eine gewisse Distanz. Er respektierte, dass dieser ihn liebte und nach Kräften förderte. Dass er an jenem Abend aber mit in der Runde gesessen hatte und nicht eingeschritten war, das vergaß er ihm nicht.
Sie erreichten den Landeplatz in einem separat zugänglichen Außenbereich des Flughafens und er stieg in den Hubschrauber, der kurz darauf abhob. Da er von Anfang an vorhatte, am selben Tag zurückzufliegen, reiste er ohne Gepäck. In Nowaya Kalami fühlte er sich viel mehr zu Hause als in Krasnojarsk. Außerdem lag dort sein Herzensprojekt direkt vor der Haustür.
Offiziell gab es an dieser Stelle nur eine Goldmine, Olimpiada, die größte Russlands, deren Krater die Landschaft auf Dutzenden von Quadratkilometern verschandelten. Der wahre Schatz lag unter der Erde, gut versteckt vor neugierigen Satellitenaugen: ein Teilchenbeschleuniger, dessen Leistung die des LHC am CERN weit in den Schatten stellte.
Angefangen hatte es alles mit dem Prototyp eines Fusionskraftwerks, das der Alte dort in den Zweitausendern hatte errichten lassen. Leider hielt die technische Entwicklung mit den hochfliegenden Plänen seines Großvaters nicht Schritt und so schlummerte der Beschleuniger, der das Herzstück des Kraftwerks bilden sollte, viele Jahre nahezu ungenutzt im Boden der Taiga. Erst in den letzten Jahren war die Anlage dank Olegs Initiative instandgesetzt, grundlegend renoviert und auf den neuesten Stand der Technik gebracht worden.
Die Neuigkeiten von den Geschehnissen am CERN lenkten das Projekt dann in eine neue Richtung. Sie fielen genau in Olegs Fachgebiet und lösten bei ihm einen kreativen Schub aus. Innerhalb weniger Monate entwickelte er eine eigene Theorie der zugrundeliegenden Physik, die bis auf wenige Details mit den Überlegungen von Walter Stein übereinstimmte.
Oleg interessierten an dieser Entwicklung allerdings vorrangig die praktischen Einsatzfelder. Schon bevor sein Großvater im Geheimen Antimaterie aus der Anomalie im CERN extrahieren ließ und von einer Bombe träumte, arbeitete er bereits an der Konstruktion einer neuartigen Anlage zur Energieerzeugung, die den Beschleuniger mit Strom versorgen sollte. Ein Bauwerk, das er aus Sicherheitsgründen nicht in besiedelten Gebieten errichten konnte, denn der Brennstoff, mit dem es lief, zerstrahlte beim bloßen Zusammentreffen mit herkömmlichen Stoffen zu ungeheuren Mengen reiner Energie und musste daher besonders abgeschirmt werden.
Seit einer Woche lief das Kraftwerk bereits mit der Antimaterie, die sie im vergangenen Jahr in der Schweiz abgezweigt hatten, und gestern hatten sie den Beschleuniger zum ersten Mal auf volle Leistung hochgefahren. Falls Olegs Berechnungen stimmten – und bisher hatten sie das immer –, dann musste sich heute eine neue Pforte öffnen.
Sie waren noch im Anflug auf Nowaya Kalami, als unvermittelt eisige Kälte seinen Körper flutete und ihm am ganzen Körper die Haare zu Berge standen. Sein Magen revoltierte und er schmeckte säuerliches, halb verdautes Brot im Mund. Ein intensives Déjà-vu manifestierte sich in seinen Gedanken. Wann und wo hatte er das schon einmal erlebt?
Dann fiel es ihm ein: Es war letztes Jahr in Genf gewesen. Damals hatte er mit einer Delegation russischer Wissenschaftler die Anlagen des CERN besucht und auch die Kaverne mit dem ATLAS Experiment besichtigt. Nur wenige Leute wussten damals von der Anomalie und außer dem Institutsdirektor hatte nur er Kenntnis davon, dass sie zu dieser Zeit vom Konsortium zur Gewinnung von Antimaterie genutzt wurde. Selbst Pjotr Maksimow, Teil der Delegation, wie er sich plötzlich erinnerte, wusste davon nichts.
Dort war ihm ebenfalls eine seltsame, atmosphärische Spannung aufgefallen, die in der Maschinenhalle geherrscht hatte. Außer ihm schien sie niemand registriert zu haben. Sie war nicht so intensiv gewesen wie jetzt, aber … sollte etwa …?
Er reagierte sofort und zückte sein Smartphone. »Geht es los?«, fragte er als erstes, nachdem sich die Verbindung aufgebaut hatte.
»Moment, ich sehe nach. Oh, es scheint, als wären die Detektoren gestört. Ich kümmere mich darum.«
»Die Detektoren sind in Ordnung. Starten Sie sofort Tsarítsa 1!«
Dieses Programm war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Er hatte den schweren Unfall beim ersten Öffnen der Anomalie in Genf bereits ins Kalkül gezogen und einen Umkreis von fünfzig Metern um die Stelle, an der sich die neue Pforte bilden sollte, so geplant, dass dort niemand vor Ort sein musste. Außerhalb von Wartungsarbeiten konnte dort alles automatisch erledigt werden.
Jetzt wurde dieser Bereich noch einmal erweitert, alle Mitarbeiter in das oberirdische Kontrollzentrum evakuiert und der Beschleuniger parallel heruntergefahren.
Minuten später landete der Helikopter. Oleg sprintete über das kleine Flugfeld auf den Eingangsbereich zu. Aus der Luft konnte man diesen nicht erkennen, denn er lag tief unter einem Überhang. Niemand hätte hier mehr erwartet als einen der Erkundungsstollen, wie sie regelmäßig in den Untergrund getrieben wurden. Niemand ahnte, dass dahinter Kernforschung auf einem Niveau betrieben wurde, das die Kollegen in Genf und Batavia hätte vor Neid erblassen lassen.
Wenig später betrat er den Kontrollraum. Während ihn der Leiter der Spätschicht informierte, standen sie vor einer Monitorwand, die zeigte, was unten in der inneren Halle geschah. Wie am Beschleuniger in Genf gab es auch hier einen Wald von Detektoren, der sich um eine Stelle im Beschleunigerring gruppierte. In der Mitte dieser Anordnung ließ sich eine massive zylindrische Form erahnen, die allein die Größe eines Tennisplatzes einnahm.
Stefano Magnone, der neue Direktor des CERN, hätte sie vermutlich als eine stark vergrößerte Version der Black Box identifiziert, mit der das Konsortium dort im vergangenen Jahr Antimaterie gewonnen hatte.
Derzeit zeigten die Monitore nur eine Außenansicht des Geräteparks.
»Hat sich in der Kammer schon etwas ereignet? Wie weit sind wir?«
»Sie hatten völlig recht. Bereits kurz vor Ihrer Warnung haben die Detektoren völlig verrückt gespielt. Die meisten maßen plötzlich gar nichts mehr, obwohl der Protonenstrahl bis dahin jede Menge Kollisionen auf dem Target produziert hatte. Kurz darauf haben wir die ersten Zerfälle von Antimaterie gemessen, hauptsächlich Wasserstoff und Helium. Wie Sie vorhergesagt haben, stiegen sie für eine Zeit exponentiell an, aber dann flachte die Kurve schnell ab, sodass es nicht zu einer Antimaterie-Explosion auf dem Target kam. Seither scheint sich eine Art Gleichgewicht eingestellt zu haben. Die Zerfälle befinden sich auf hohem Niveau, aber weit unterhalb der Sicherheitsschwelle, für die die Anlage konzipiert wurde.«
»Okay. Dann sehen wir uns mal an, was wir geschaffen haben. Entfernen Sie das Target und lassen Sie uns einen Blick in die Kammer werfen.«
Es dauerte einige Minuten, in denen das hauchdünne Metallplättchen langsam aus dem Strahlengang des Beschleunigers gezogen wurde. Als die Detektoren nur noch eine geringe Reststrahlung anzeigten, aktivierten sich die Innenkameras. Zentimeterdicke Abschirmungen fuhren beiseite und ein Fenster auf der Monitorwand, das bisher schwarz gewesen war, gab den Blick auf das Innere der Black Box frei.
»Auf den ganzen Monitor!«, befahl Oleg. »Und dimmen Sie die Beleuchtung.«
Im hellen Schein der Lampen konnten sie zunächst nicht viel erkennen. Dann, als das Umgebungslicht im Raum fast erloschen war, zeichnete sich auf dem Bildschirm ein kreisrunder Bereich ab, der bläulich schimmerte und von einem silbernen Ring umgeben war, dessen Kante sich in ständiger Bewegung zu befinden schien.
»Das ist mehr, als ich erwartet hatte«, staunte Oleg.
»Das bläuliche Leuchten, ist das etwa Tscherenkow-Strahlung?«
»So sieht es aus. Wir blicken auf einen echten Ereignishorizont und wir werden die Wunder erforschen, die dahinter auf uns warten.«
Sie verharrten eine ganze Zeit vor der Aufnahme, die im schwachen Licht zwar etwas unscharf und verrauscht wirkte, aber für die Forschung ähnlich bahnbrechende Erkenntnisse produzieren würde, wie es die ersten Nebelkammeraufnahmen von Antiteilchen in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts getan hatten. Oleg konnte sich nicht daran sattsehen.
»Das Bild sieht viel detaillierter aus, als ich erwartet hatte. Wie hoch ist eigentlich die Vergrößerung?«
Der Schichtleiter antwortete stotternd: »Das … das ist … das ist keine Vergrößerung!«
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