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Wenn Vögel singen (Artikel von Mike Gorden)

Wenn Vögel singen

… dann stellt man sich dabei etwas wunderschönes vor. Ist es ja auch, solange es sich bei den fleißigen Sängern um Amseln und Nachtigallen handelt. Die können im Frühsommer morgens um vier den baldigen Sonnenaufgang begrüßen. Ich drehe mich auf die andere Seite, lächle und baue den Gesang in meine Träume ein.

Leider sind die Amseln seit einigen Wochen verstummt. Statt ihrer krächzen jetzt Krähen und Elstern. Wenn erstere morgens in Schwärmen gen Bürgerpark ziehen, erweckt ihr Klangteppich in mir die Vorstellung, daß ihnen die apokalyptischen Reiter auf dem Fuß folgen. Tun sie zum Glück nicht, wobei, wenn ich später die Nachrichten höre, bin ich geneigt zu glauben, daß die anderswo bereits genügend zu tun haben.

Noch später im Jahr mischt sich ein zartes gu-guu-guu, gu-guu in meine Träume. Meist wird es sofort beantwortet.

gu-guu-guu, gu-guu
gu-guu-guu, gu-guu
gu-guu-guu, gu-guu
gu-guu-guu, gu-guu.

In der Hoffnung, daß es bald ein Ende hat, zähle ich im Halbschlaf die Motive mit, die zusammen eine Strophe ergeben. Unglücklicherweise endet jede einzelne Taube nicht mit einem gu-guu, sondern hängt noch ein kurz abgehacktes gu’ hintenan, ehe sie verstummt. Nach längerem Hinhören und schon halb wach fällt mir auf, daß das allererste Motiv jeder Taube unvollständig ist. Das erste gu fehlt, so daß die Strophe letztlich nicht wie oben geschrieben lautet, sondern

guu-guu gu-guu gu’
guu-guu gu-guu gu’
guu-guu gu-guu gu’
guu-guu gu-guu gu’.

Würden alle brav nacheinander gurren und hätten alle Tauben die selbe Tonlage, wäre auch das erträglich. Leider tun sie das nicht und unglücklicherweise liegen auch die einzelnen Stimmlagen gern eine große oder kleine Sekunde auseinander. Eine – vermutlich der Sporan – liegt sogar einen Tritonus über einer der anderen Stimmen.

Für jeden, der auch nur ein bißchen musikalisch ist, ist dieses Clustersingen schwer auszuhalten. Die Krönung ist eine Taube, die nicht in der Lage ist, ihren Ton zu halten. Auch sie mischt ihr Liebeslied unter den Gesang der anderen. Das Klangbild der Population der hier in meinem Stadtteil ansässigen Findorffer Masttaube ähnelt also eher einer Kakophonie.

Wenn Vögel singen
Photo by Frank Cone on Pexels.com

In diesem Jahr habe ich gelernt, daß Evolution auch im Sozialverhalten stattfindet. Der Taubenbestand im Stadtteil hat sich in zwei sprachliche Subpopulationen aufgespalten. Die zweite bereichert das klassische guu-guu gu-guu gu’ mit einer frischen Synkope.

guu-guu dum-ti-guu gu’
guu-guu dum-ti-guu gu’
guu-guu dum-ti-guu gu’
guu-guu dum-ti-guu gu’.

Seitdem ist mein Nachtschlaf bei offenem Fenster sehr unruhig geworden und ich freue mich geradezu auf den Winter.


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